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165 - Am heiligen Berg

165 - Am heiligen Berg

Titel: 165 - Am heiligen Berg
Autoren: Stephanie Seidel
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Strecke blieb, waren Artenvielfalt und Schönheit. Nur selten fand man heute noch Tiere oder Pflanzen, auf die – selbst in anspruchslosen neobarbarischen Augen – die Bezeichnung schön gepasst hätte.
    Unter den wenigen Ausnahmen befand sich der Seidentänzer, ein Nachfahre des asiatischen pluceus luteolus. Er war in Tibet beheimatet, das inzwischen Ti'bai hieß und von Menschen bewohnt wurde, deren Verhalten eine Kriegerin vom Volk der Dreizehn Inseln das Fürchten lehren konnte. Allerdings auf unerwartete Art…
    Aruula war es nicht bewusst, dass sie in einer Welt der Monster lebte, und das war auch gut so. Die junge Barbarin hatte Sorgen genug, um sich beschäftigt zu halten auf ihrem schier endlosen Ritt durch die Hochebene, da brauchte sie nicht noch über die Frage zu philosophieren, ob zweiköpfige Wollhasen eigentlich normal waren.
    Ein ganzes Rudel dieser schmackhaften Fellträger stob davon, als Aruulas Yakk beim Anritt hügelaufwärts eine Gerölllawine lostrat. Steinchen klackerten den Hang hinunter, überholt von quiekenden Hasen, die bis dahin perfekt getarnt in den Bodenfurchen gehockt hatten. Das Yakk erschrak, rutschte mit der Hinterhand weg und warf schnaubend den Kopf hoch.
    »He! Was soll das?« Aruula klatschte ihm empört die Zügel auf den Pelz. Sie hatte sich nach vorn gebeugt, damit das Yakk leichter hochkam, und war von den stoßenden Hörnern nur knapp verfehlt worden.
    »Meerdu!«, knurrte sie, als der Schreck verebbte. Dann brachte sie das Tier zum Stehen, tätschelte flüchtig den feuchten Hals, ließ die Zügel los und griff nach hinten.
    Wollhasen waren groß und fleischig. Schon ein einziger ergab eine gute Mahlzeit.
    Der Köcher mit den Pfeilen war am Sattel befestigt; den Bogen trug Aruula quer gehängt. Das war praktischer beim Reiten und gewährleistete zudem ein ungehindertes Ziehen des Bihänders. Ein Schwert nutzte allerdings nicht viel bei der Hasenjagd, und es vergingen kostbare Sekunden, bis Aruula Pfeil und Bogen in der Hand hielt. Ihr Magen begann zu knurren. Sie ignorierte ihn und legte an. Hasenintelligenz ist eine Konstante – an dieser Tatsache hatten weder der Kometeneinschlag noch ein zweiter Kopf etwas ändern können. Haken schlagend rannten sie davon, kreuz und quer und mit einem Gequieke, das wie eine Einladung durch die stille Landschaft scholl. Jeder Fressfeind im Umkreis einer halben Meile horchte auf.
    Aruula fand kein sicheres Ziel für ihren Pfeil und wollte schon aufgeben, als plötzlich ein Vogelruf ertönte. Hoch am bedeckten Frühlingshimmel über Ti'bai zog ein Roter Bhagar seine Kreise, ein postapokalyptischer Steinfalke mit enormer Flügelspannweite. Bhagare waren selten – und immer hungrig.
    Jetzt stieß er in rasender Geschwindigkeit herab. Als sein Schatten über den Boden strich, warf sich das gesamte Hasenrudel herum und hetzte zurück, genau auf Aruula zu.
    Sie lächelte grimmig und spannte den Bogen bis zum Anschlag. Die Sehne glitt ihre Fingerkuppen entlang. Es ging alles so schnell. Zu schnell.
    Der Falke schrammte durch das Hochlandgras, packte zu und hob sich mit harten Flügelschlägen wieder in die Luft.
    Einen Moment lang verdeckte sein Körper das hopsende, quiekende Durcheinander der Hasen. Sie wirkten dicht gedrängt, weil sie bei ihrer panischen Flucht zwischen zwei Felsen geraten waren. Hohe Felsen, die den Schwingen des Vogels Probleme bereiteten. Er musste schräg aufsteigen – und als er es tat, atmete Aruula scharf ein: Da stand plötzlich wie hingezaubert ein kleines Mädchen hinter dem Rudel, drei, vier Jahre alt und unglaublich verdreckt! Es war noch ein Rest von Neugier in dem schmalen Gesicht, doch die Augen blickten schon voller Schrecken zu Aruula auf.
    Die Barbarin hielt einen leeren Bogen in der Hand.
    Wudan!, hatte Aruula noch denken können und in dieses eine Wort die flehentliche, inständige Bitte an ihren Gott gelegt, er möge das Kind retten. Dann traf ihr Pfeil in warmes Fleisch und löschte ein Leben aus.
    ***
    August 2007
    Stunden später, als die drei Geländewagen bereits auf den Manasarovar-See zusteuerten, beschäftigte George T.
    Mullock noch immer der Zwischenfall am Straßenrand.
    Mullock war beunruhigt – weniger durch den Auftritt des Fremden als davon, dass er in Barkha stattgefunden hatte.
    Das wäre eigentlich gar nicht möglich gewesen. Zumindest nicht, wenn alles mit rechten Dingen zuging.
    Mullock hatte den Chinesen gesagt, dass er bei seiner umstrittenen Erstbesteigung des Kailash
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