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165 - Am heiligen Berg

165 - Am heiligen Berg

Titel: 165 - Am heiligen Berg
Autoren: Stephanie Seidel
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den Eltern zu, hob flüchtig die Hand zum Gruß und hoffte, sich noch rechtzeitig abwenden zu können.
    Aber nichts wandert schneller als ein hungriger Blick.
    Aruula bemerkte ihn, zögerte und wies dann auf den toten Hasen.
    »Schön, ihr könnt ihn haben!«, sagte sie. »Als Ausgleich für den Schreck, den ich euch bereitet habe.«
    »Kosh'nak!«, rief die Frau erfreut. Das war das Bajaatenwort für Essen, und es brachte Aruula zum Seufzen, während sie auf ihr Yakk zuschritt. Sie hätte den Hasen gern selbst verspeist. Zwischen zwei Personen hätte man ihn aufteilen können, aber vier wurden davon nicht satt, auch wenn das Vierte ein kleines Mädchen war.
    Aruula hatte schon die Zügel in der Hand. Sie brauchte nur noch aufzusitzen. Hätte sie sich eine Winzigkeit beeilt, wäre alles ganz anders gekommen. Aber das konnte sie nicht wissen, und so ließ sie sich beim Klang heller Stimmen dazu verleiten, noch einmal zurückzublicken. »Heilige Götter!«, entfuhr es ihr. Neben dem Mädchen und seinen Eltern standen plötzlich sechs – nein: sieben weitere Kinder!
    Kleine schmutzige Magerdinger mit großen Augen. Alle starrten Aruula an, und in jedem Gesicht war dasselbe zu lesen: Hunger!
    Die Barbarin hatte weder Zeit für gute Taten noch Lust dazu. Doch das war den heiligen Göttern egal, wie Aruula feststellen musste, als sie sich hoffnungsvoll umdrehte: Die Wollhasen hätten längst weg sein müssen. Sie waren es aber nicht. Sie hockten dumm am Boden, und jeder von ihnen mummelte zwei Schneisen ins Gras.
    Unentschlossen blickte Aruula von den Hasen zu den Kindern und zurück. Konnte sie einfach davon reiten und die Familie sich selbst überlassen? Sie hätte es möglicherweise getan, wäre da nicht die Sache mit dem Schamanen gewesen. Während die Barbarin wortlos Pfeil und Bogen wieder aufnahm, rief sie sich den merkwürdigen Traum in Erinnerung.
    Aruula hatte einen elend weiten Weg angetreten, um nach Ti'bai zu gelangen. Es sollte hier einen heiligen Berg geben, von dem es hieß, er habe magische Kräfte! Wenn das Licht der Abendsonne an ihm herunter floss, sah er angeblich aus, als würde er brennen. Das muss der flammende Felsen aus meiner Vision sein!, hatte sie sich gesagt. Doch irgendwann waren ihr Zweifel gekommen und hatten sich so vermehrt, dass sie schon umkehren wollte.
    Da tauchte eines Nachts dieser Schamane in ihren Träumen auf. Er trug eine Zeichnung auf der Haut; anders als Aruulas, aber genauso bedeutsam. Du suchst den Kei'lun!, hatte er gesagt, einen knochigen Zitterfinger erhoben und hinzugefügt: Sei gewarnt, Aruula vom Volk der Dreizehn Inseln! Der Berg ist ein Götterthron, und die Gesetze deiner Götter gelten auch für ihn! Der Schamane war dabei rückwärts in die Dunkelheit entschwebt, und seine Worte
    »gelten auch für ihn!« hatten seltsam nachgehallt, als kämen sie aus einem leeren Raum. Aruula hatte nach dem Aufwachen Stunden gebraucht, um sich zu erinnern, was sie bedeuteten.
    »Ich habe so viel vergessen in den Jahren mit Maddrax«, murmelte sie beim Einsammeln der erlegten Hasen.
    Bajaatenkinder trippelten um sie herum und suchten die Grasfläche ab, ängstlich darauf bedacht, nur ja nichts Essbares zu übersehen.
    Wie die Orgelpfeifen kamen sie schließlich hinter Aruula zu den Eltern zurück gestapft. Der Kleinste war höchstens drei Jahre alt.
    Die Barbarin wandte sich an seinen Vater. »Deine Kinder sind zu jung für den Weg durch dieses raue Gelände«, sagte sie und warf dem Mann ein paar Hasen vor die Füße. Seine Lederstiefel waren löcherig. »Hier findet man kaum Nahrung, und nachts wird es sehr kalt. Konntet ihr sie nicht wenigstens warm genug anziehen?«
    Der Baajate verstand kein Wort, doch er hörte Aruulas Missfallen, sah ihren Fingerzeig auf seine Sprösslinge und reimte sich den Rest zusammen.
    »Wir sind arme Leute aus Makand ( Stadt im Steppengebiet der ehem. Mongolei )«, hob er an, zog ein Messer und bückte sich nach den Hasen. Seine Frau hatte inzwischen getrockneten Yakkdung aus den Vorratstaschen am Sattel ihres Pferdes geholt und machte sich ans Herrichten einer Feuerstelle. Sie schien aufmerksam zu lauschen, als ihr Mann weiter sprach. »Der letzte Winter war so hart! Meine Ziegen sind alle krank geworden und gestorben. Jetzt haben wir nichts mehr zum Leben, nicht mal vernünftige Kleidung. Deshalb wollen wir meinen Bruder um Hilfe bitten. Der wohnt dort unten, in der Ebene.« Er hielt beim Abziehen des Hasen inne und wies mit dem blutigen Messer
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