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165 - Am heiligen Berg

165 - Am heiligen Berg

Titel: 165 - Am heiligen Berg
Autoren: Stephanie Seidel
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Buttertee in Becher. Dabei fragte er beiläufig: »Wie willst du ihn denn aufhalten?«
    Kumar zuckte die Schultern. »Ich reite nach Shinghana. Sollte ich ihn dort verpassen, kehre ich um. Mullock wird am Kailash ein Basislager einrichten – bis er damit fertig ist, bin ich da.«
    Die Hand, die ihm den Becher reichen wollte, stockte. Raj war entsetzt. »Kumar! Ich beschwöre dich: Mach dir klar, was du da sagst! Du hast noch nie einen Menschen getötet, und das muss so bleiben, damit deine Seele keinen Schaden nimmt.«
    Ganesh mischte sich ein. »Ich sehe auch keinen Unterschied darin, ob der Mann den Berg besteigt oder du den Mann am Berg erschießt. So oder so wäre der Kailash entweiht.«
    Kumars Augen füllten sich mit Tränen des Zorns. Wie sollte er den Mönchen erklären, dass es sehr wohl einen Unterschied gab? Der Kailash war ein einzigartiges, religionsübergreifendes Heiligtum. Hindus und Buddhisten beteten ihn gleichermaßen an, die indische Mythologie sah ihn als Nabel der Welt; er war Erlöserberg für die asketischen Jainas und Seelenberg für die Bön.
    Reichte es nicht, dass China ihn als devisenträchtige Attraktion vermarktete? War es nicht übel genug, dass Touristen mit Kameras und Coladosen auf dem heiligen Pfad herum spazierten, den tief gläubige Menschen seit Jahrhunderten als eine spirituelle Opferreise ansahen, die sich in nichts von der Pilgerfahrt nach Mekka oder Rom unterschied? Musste man auch noch schweigend erdulden, dass jemand zum Spaß den Kailash hinauf kletterte?
    Nein, das musste man nicht! Kumar fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Brüder«, sagte er sanft. »Was glaubt ihr, würde mit Mullock geschehen, wenn er angekündigt hätte, die Kaaba ( größtes Heiligtum der Moslems ) zu besteigen?«
    Ganesh wiegte unschlüssig den Kopf. »Nun ja – das ist eine andere Religion.«
    »Die auch keinen Mord erlaubt, genau wie unsere.«
    Kumar erhob sich. »Aber sie beschützt ihre Heiligtümer, und das ist völlig legitim! Mir leuchtet nicht ein, warum wir den Kailash preisgeben sollen, so lange der Petersdom und der Tempelberg ganz selbstverständlich von aller Welt respektiert werden.« Kumars langes schwarzes Haar fiel nach vorn, als er sich nach der Waffe bückte. Er hatte es wachsen lassen, um sich auch äußerlich von den anderen Mönchen zu unterscheiden. Es sollte sie vor Repressalien schützen, falls die Chinesen ihm eines Tages auf die Schliche kamen.
    Raj trat heran und hielt Kumar eine Umhängetasche hin.
    »Ich habe dir gedörrtes Yakfleisch eingepackt«, sagte der alte Mönch, ohne Kumar in die Augen zu sehen. »Iss es unterwegs! Es wird dich bei Kräften halten.« Kumar hängte sich die Tasche um, legte seine Handflächen aneinander und verbeugte sich zum Dank. Raj zog ihn unvermittelt an sich.
    Diese Geste der Herzlichkeit war untypisch für den buddhistischen Mönch, und Kumar runzelte die Stirn. Was war mit Raj? Plagten ihn böse Vorahnungen?
    Kumar löste sich aus der Umarmung und nickte dem Freund aufmunternd zu.
    »Ich komme wieder!«, versprach er.
    Doch das war Raj nicht genug. Er hielt Kumar am Ärmel fest und sagte eindringlich: »Jedes Leben ist heilig, auch das der Feinde! Nutze den Weg, der vor dir liegt, zur Suche nach Erleuchtung! Denn was immer du an Schuld auf dich lädst – es wird deiner Seele schaden!«
    »Meine Seele gehört Tibet! Den Menschen, dem Land und den heiligen Stätten! Und wenn ich sie für einen davon verliere…«, Kumar bückte sich nach der Waffe, »soll es mir recht sein.«
    Der Mann mit den ungewöhnlichen Augen verließ das Gebäude durch ein klaffendes Loch in der Wand. Kurz darauf hörte man Hufgetrappel. Als es verklungen war, wandte sich Ganesh an Raj.
    Es war unschicklich, einen alten Mönch mit einer Anschuldigung zu konfrontieren, deshalb bemühte sich Ganesh um eine diplomatische Umschreibung.
    »In Kumars Tasche ist nicht nur gedörrtes Yakfleisch.«
    Raj gab keine Antwort. Er zog nur ein Fläschchen hervor, das er gleich wieder einsteckte. Dann machte er sich auf den Rückweg ins Kloster.
    Die Gebetsmühlen, das, war Ganesh klar, würden an diesem Tag nicht mehr stillstehen – Kumars wegen, den Raj aufgezogen hatte und von Herzen liebte. So sehr, dass er ihn um jeden Preis davon abhalten wollte, Mullock zu töten.
    Und Ganesh wusste noch etwas anderes: Die Kapseln in dem Fläschchen enthielten ein geschmacksneutrales Pulver.
    Alle im Kloster kannten es, und seine Wirkung war erprobt.
    Es half zuverlässig gegen
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