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165 - Am heiligen Berg

165 - Am heiligen Berg

Titel: 165 - Am heiligen Berg
Autoren: Stephanie Seidel
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nach Westen. Dann fuhr er fort: »Aber vorher müssen wir noch den Jungen wegbringen. Yinjo. Das ist der da drüben! He, Yinjo, komm mal her!«
    Wann hört er endlich auf zu reden?, fragte sich Aruula, die neben dem Bajaaten hockte und ihm zur Hand ging. Er muss doch merken, dass ich ihn nicht verstehe! Mit geübten Griffen trennte die Barbarin einen Wollhasen von seinem Fell. Als sie aufsah, stand der Junge vor ihr. Yinjo. Er war vielleicht acht oder neun, das ließ sich schwer schätzen. Diese Kinder waren alle dünn und strubbelig, mit schmalen dunklen Augen in einem schmalen dunklen Gesicht. Wenigstens hat man sie nicht gewaschen!, dachte Aruula. Es ist einfach nicht gesund, die natürliche Schutzschicht von der Haut zu schrubben! Maddrax hatte zwar immer gesagt, häufiges Baden sei wichtig. Aber Maddrax hatte so vieles gesagt – und nun war er fort. »Er hat mir mein altes Leben über den Kopf gezogen wie ein Hasenfell«, sagte sie sich düster.
    »Damit ich besser in seine Welt passe. Jetzt passe ich, und es nützt mir nichts, denn sie ist nicht mehr da.« Hastig fuhr sie sich über die Augen. Aruula hatte das zweite Stadium der
    Trauer erreicht, in dem sich der Kummer über den Verlust eines geliebten Menschen als Zorn manifestiert. Sie machte Commander Matthew Drax für seinen eigenen (vermeintlichen) Tod verantwortlich und nahm es ihm übel, dass sie seinetwegen so litt. Das war normal, auch wenn die Barbarin es nicht so sah.
    »Ich werde wegen Maddrax noch verrückt!«, erzählte sie dem Bajaatenjungen, in der Annahme, dass er sie nicht verstand. Entsprechend zuckte sie zusammen, als er reagierte.
    »Wer ist Maddrax?«, fragte Yinjo. Aruulas Kopf flog herum. Sie starrte perplex den Vater an. Der grinste vor Stolz und sah aus wie ein Idiot.
    »Yinjo ist sehr klug!«, sagte er. »Er hat die Sprache von reisenden Händlern gelernt, auf dem Markt von Makand. Und er kann was! Deshalb bringen wir ihn nach Shi'gana, da ist er gut aufgehoben.«
    Aruula verstand nur ein einziges Wort. »Shi'gana? Da will ich auch hin!«, platzte sie heraus und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als der Junge ihre Worte übersetzte.
    Die dunklen Bajaatengesichter hellten sich auf, und Aruula schwante Übles.
    Es gab ein kurzes, heftiges Gerede zwischen Vater und Sohn. Die Mutter kam hinzu. Auch sie hatte etwas zu sagen.
    Zwei der älteren Kinder schnatterten dazwischen, dann verstummten alle schlagartig und Yinjo drehte sich um.
    »Mein Vater möchte wissen, ob du mich mitnehmen kannst nach Shi'gana.«
    »Nein.« Aruula schüttelte den Kopf. Ihre Lust auf Kinderbetreuung war seit einiger Zeit erloschen: Beim letzten Mal hatte sich ein scheinbar kleines Mädchen als Menschen fressende Narod'kratow entpuppt. [2] Erlebnisse dieser Art mussten sich nicht wiederholen.
    Die Bajaaten aber hatten einen Hoffnungsschimmer entdeckt und hielten daran fest. Händeringend redeten sie auf Aruula ein. Der Vater lud sie gestenreich ans Feuer, wie einen Gast, als ob die Hasenbraten sein Verdienst wären.
    Die Mutter war klüger. Sie hatte gute Argumente – acht, um genau zu sein –, und die brachte sie auch vor. Aruula sank das Herz, als die Bajaatenfrau ein Kind nach dem anderen heranzerrte, seine zerlumpten Schuhe auszog und dann auf die Berge zeigte, Richtung Shi'gana.
    Alle Kinder hatten Blasen an den Füßen, der Kleinste zudem noch blutige Zehen. Er würde diese Reise niemals unbeschadet überstehen. Wenn überhaupt.
    »Bitte!«, sagte Yinjo dann auch noch mit treuherzigem Blick und legte die Handflächen aneinander. Er hätte genauso gut Schachmatt! sagen können. Aruula hatte verloren.
    »Also schön – meinetwegen«, knurrte sie und wandte sich an die Eltern. »Aber damit das klar ist: Ich nehme ihn nur mit nach Shi'gana, sonst nichts! Ich suche keine Verwandten für ihn, und ich kehre unterwegs auch nicht um, weil der Junge es sich anders überlegt hat.«
    Hände klopften an ihr herum, und erleichterte Stimmen umschwirrten sie, als Aruula zur Feuerstelle ging. Wind verfing sich in ihrem Haar. Er kam von den Bergen, doch er brachte keine Kälte heran, wie man es hätte erwarten können. Er war vielmehr sanft und lau. Freundlich, irgendwie. Aruula sah es als Zeichen an. Die Gesetze deiner Götter gelten auch für ihn!, hatte der Schamane gesagt, und sie wusste wieder, was damit gemeint war. Wer die Götter um etwas bitten wollte, musste vorher selber eine Bitte erfüllen.
    Aruula sah ihrem Ritt zum heiligen Berg Kei'lun voll
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