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161 - Der Kristallschlüssel

161 - Der Kristallschlüssel

Titel: 161 - Der Kristallschlüssel
Autoren: Susan Schwartz
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»Ich sehe dunkle Wolken deine Stirn überschatten.«
    Der Baumsprecher setzte sich auf und rieb sich den Nacken. Seine langen Haare fielen inzwischen bis über die Schulterblätter herab. Seit Rosens Tod schlief er allein in einer Wabe, die Starkholz ihm zugeteilt hatte.
    Kein Wunder, dass er seit drei Monaten schlecht träumte. Innerhalb weniger Tage war seine ruhige und beschauliche Welt des Friedens in Trümmer gegangen.
    Seit Maya mit dem Erdmann vom Mond zurückgekehrt war, war das gesamte Gefüge des Mars durcheinander geraten. Die Harmonie und Einheit, die Windtänzer stets gespürt hatte, das Gefühl der Verbundenheit mit der Welt war dahin. Blut und Tränen hatten seinen Weg seither gezeichnet, und gezeichnet von Verwüstung war auch der heilige rote Sand, mit Spuren, die man oberflächlich tilgen, aber niemals ganz verwischen konnte. Wie die versteinerten Abdrücke eines ausgestorbenen Tieres hatten sie sich tief in den Boden geprägt.
    Was ist aus mir geworden?, dachte der Mann müde.
    Er war eine sehr große und wie die meisten Waldleute ätherische Erscheinung, zu dem viele aufblickten, seit er als Jüngling den ersten Korallenbaum zum Klingen gebracht hatte. Sämtliche Sippen achteten sein Wort, holten sich Rat bei ihm; selbst bei den wichtigen politischen Vertretern der Städter war er angesehen.
    Doch dann hatte Sternsang, der Uralte, Erster Baumsprecher und Weltenwanderer, von der Prophezeiung gesprochen. Von dem Weitgereisten, der die Dunkelheit unter blutroter Sonne mit sich brachte.
    Und der die Brücke zwischen den Welten schuf. Und er verkündete noch einiges mehr, in kryptische Sprüche verhüllt…
    Windtänzer hatte sofort gewusst, wer damit gemeint war, und ihm war ebenso klar geworden, dass gehandelt werden musste, bevor das Unglück geschah.
    Und damit habe ich es wahrscheinlich erst recht heraufbeschworen, gab er sich die Schuld. Man kann Weissagungen nicht entgehen, indem man sie zu verhindern versucht. Das war die härteste Lektion meines Lebens…
    Und was hatte es ihn gekostet! Die Wohnbäume seiner Sippe standen nicht mehr, es hatte Tote gegeben, und er selbst, aus Schmerz über den Tod seiner Lieblingsfrau, hatte getötet…
    Nun, der Mann hatte überlebt. Aber für Windtänzer machte das keinen Unterschied, denn er hatte gewollt, dass der Städter stirbt.
    Obwohl er ein Sühnegericht erwartet hatte, hatte ihn niemand angeklagt. Es sprach auch niemand darüber, und Windtänzers Ansehen schien nicht geschmälert zu sein.
    Aber in ihm sah es anders aus. Er wusste nicht, ob er jemals seine Selbstachtung wieder finden, konnte.
    Ein Heimatloser und Vertriebener war er jetzt, angewiesen auf die Unterstützung von Starkholz und seiner Sippe, die Windtänzers Angehörige freundlich aufgenommen hatte. Und das nicht nur vorübergehend, das hatte der Baumsprecher Starkholz deutlich gemacht. Wofür Windtänzer äußerst dankbar war, weil er seine Familie und Angehörigen so in Sicherheit wusste.
    Aber das bedeutete auch, Windtänzers Sippe existierte nicht mehr, war ausgelöscht.
    Dementsprechend hatte er seinen Schüler Aquarius aus seinen Diensten entlassen. Der Junge hatte es nicht verstanden, aber sich fügen müssen. »Ich bin kein Lehrer mehr«, hatte Windtänzer zu ihm gesagt.
    »Schwarzstein hat es schon das Leben gekostet, mir zu folgen. Ich kann es nicht verantworten, dass dir dasselbe geschieht. Suche dir einen anderen Meister, Starkholz oder Vogler.«
    »Aber Meister!«, hatte Aquarius verzweifelt gerufen.
    »Was wird aus dir?«
    »Ich werde wieder Schüler«, hatte Windtänzer geantwortet. »Ich erkenne jetzt, dass meine Lehrzeit noch lange nicht vorbei ist.«
    Windtänzer zuckte zusammen, als er die Berührung der zarten Hand Morgenblütes auf seiner Schulter spürte. Sie war sein einziges Kind. Nicht auszudenken, wenn er sie verlöre…
    »Nimm es doch nicht so schwer, Vater«, sagte das Mädchen leise. »So kann es nicht weitergehen. Seit Wochen ist dein Gesang verstummt, du betest nicht mehr, du preist nicht mehr den Wald. Darunter leiden wir alle, und ich am meisten.«
    »Ich weiß«, sagte er, legte den Arm um ihre schmale Hüfte und zog sie an sich. »Es tut mir Leid, mein kleiner Honigschnäbler. Ich habe euch allen viel zugemutet, aber das ist nun vorbei. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
    »Was wirst du tun?«, fragte Morgenblüte erschrocken.
    »Ich werde euch verlassen«, antwortete ihr Vater. »Zumindest für eine Weile, bis ich mit mir selbst ins Reine gekommen
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