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158 - Orguudoos Brut

158 - Orguudoos Brut

Titel: 158 - Orguudoos Brut
Autoren: Stephanie Seidel
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tatsächlich dem Mongolenherrscher gehört hatten, ließ sich natürlich nicht mehr klären, denn der Schrein und sein Inhalt waren längst zerfallen. Auch von Lagtai selbst mit seinen kleinen Häusern, den Ställen, Scheunen und Andenken-Büdchen war nichts weiter geblieben als ein Haufen maroder Mauern, durch die der Steppenwind pfiff.
    Für Chengai waren es die reinsten Wunderwerke, und er war froh, diese verlassene Siedlung gefunden zu haben. Er kannte keine Steinbauten und hatte als Kind der Bajaaten, einem Nomadenclan aus den Tiefen der Wüste, seine Winternächte immer frierend unter Sternen verbracht. Dass man Kälte wirksam aussperren konnte, war eine Erfahrung, die Chengai dem Russen verdankte, mit dem er seit einigen Monden über Land zog. Dafür liebte er ihn.
    Als der junge Saikhan zur Herdstelle ging, machten die anderen Männer bereitwillig Platz. Narayan, Lamak und Rai waren ebenso gute Jäger wie er, aber Chengai hatte das Naa'dam von Makand letzten Sommer gewonnen und war somit der unumstritten beste Reiter weit und breit. Dieser Tatsache zollte man gern Tribut, denn nichts bedeutete den Saikhan mehr als ihre Jingiis – die kleinen, zotteligen Pferde der nördlichen Steppe.
    »Wo ist Jem'shiin?«, fragte Chengai, während er seine Hände in der Wärme des Feuers rieb.
    Narayan spuckte auf den Boden. »Der Russe? Wo soll er sein? Im Stall natürlich, bei seinem Liebling! Es wäre ja möglich, dass das dumme Vieh sich fürchtet wegen der paar Flocken und dem bisschen Wind.«
    Lamak und Rai schüttelten die Köpfe. Kein Saikhan wäre je auf die alberne Idee gekommen, seinem Reittier Mut zuzusprechen! Wie peinlich, wenn so was notwendig wäre!
    Jingiis standen bei Wind und Wetter draußen – das machte ihre Nerven stark und hielt sie gesund. Nur im Moment waren sie eingesperrt, weil hinter den Ruinen etwas umging.
    Narayan zog seinen Dolch aus dem Gürtel. Nachdenklich strich er mit dem Daumen an der scharfen Klinge entlang, und seine dunklen Asiatenaugen wurden noch schmaler, als sie ohnehin schon waren.
    »Der Schnee hat alle Spuren verweht«, sagte er übergangslos.
    »Das macht nichts«, meinte Chengai ruhig. »Wir brauchen sie nicht zu suchen! Sie werden von alleine kommen, und dann werden sie sterben.«
    »Sicher?« Narayan zuckte kaum merklich zusammen und hob den Daumen. Blut rann aus einer Schnittwunde. Er leckte es ab.
    »Ganz sicher.« Chengai warf einen raschen Blick auf die Frauen. Dann beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Was hast du mit der Leiche gemacht?«
    »Leiche ist gut!« Narayan lachte leise. Er wies mit dem blutenden Daumen über seine Schulter Richtung Fenster und sagte freudlos: »Hab ich verstaut. Wie besprochen.«
    Draußen heulte der Wind ums Haus, vielstimmig und in verschiedenen Tonlagen. Nichts schien sich daran zu ändern – und doch ruckten die Männer plötzlich hoch. Da war eine winzige Dissonanz im Chor der Sturmgeister! Es bedurfte geübter Ohren, um sie heraus zu hören und richtig zu interpretieren: Etwas kam auf die Tür zu!
    Lautlos, in fließender Simultanbewegung, zogen die vier Steppenjäger ihre Waffen und huschten auseinander. Sie waren die Besten ihrer Art; sie konnten Großwild nachstellen in einer Landschaft, die praktisch keine Verstecke bot, und man musste schon sehr gut sein, wenn man sie überraschen wollte. Vor allem aber durfte man nicht ausrutschen und mit dem Kopf an die Tür knallen.
    »Grash'naa woitschit!«, fluchte eine tiefe Stimme. Chengai steckte die Waffe weg und grinste. Gleich darauf kam Jem'shiin ins Haus gepoltert, zerrte seine Fellmütze vom Kopf und verpasste der Tür einen wütenden Tritt.
    Als sie ins Schloss fiel, hörte der Blizzard auf.
    ***
    Stille.
    Nur langsam erwachte Aruula im – wie sie glaubte –Himmel ihrer Ahnen, und nur mühsam schlug sie die Augen auf. Sanfte Schwere lag auf ihrem Rücken, den Armen und Beinen. Alles war so weiß. Und so still.
    Krahac? fragte sie. Nur in Gedanken, weil ihr Mund sich nicht öffnen wollte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass der Totenvogel sie in Wudans Reich gebracht hatte. Seltsam…
    Etwas rann ihre Wangen entlang, blieb einen Moment an der zarten Nasenspitze hängen und tropfte dann mit leisem Pitsch herunter. Tränen vielleicht? Ja, es mussten Tränen sein! Aber sie kamen nicht aus ihren Augen!
    Aruula versuchte nachzudenken. Wer weinte da über ihr, und warum? Hatte es nicht geheißen, in Wudans Reich wären alle glücklich? Und überhaupt: Sollte es hier nicht auch
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