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149 - Auf Messers Schneide

149 - Auf Messers Schneide

Titel: 149 - Auf Messers Schneide
Autoren: Bernd Frenz
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Steuerknüppel schlugen gegen Matts Handflächen. Die Achsenanzeige spielte verrückt. Linien liefen kreuz und quer, hoch und runter. Die Steuerung ließ sich nicht mehr kontrollieren.
    »Verdammt!« brüllte Matt. »Was passiert hier?«
    Naoki schüttelte den Kopf. »Es ist jetzt viel besser«, sagte sie. »Wir kehren zur Erde zurück, so wie du es wolltest.« Sie drehte den Kopf und sah Matt aus milchigweißen Augen an.
    »Zurück zur Erde. Nach Hause.«
    »Naoki?«, fragte Matt tonlos.
    ***
    Das Chaos war ihre Existenz.
    In dem Moment, in dem der EMP die Station traf, hatte Naoki gespürt, wie ihre Implantate zerstört wurden. Es gab keinen Schutz vor dem Impuls, keinen Ort, an dem sie sich in dem Sekundenbruchteil, der zwischen Erkenntnis und Zerstörung lag, hätte verstecken können. Der EMP brach über sie herein wie eine unaufhaltsame Naturkatastrophe. Nichts konnte sie dagegen unternehmen.
    In den ersten Sekunden nach dem Schock hatte sie noch geglaubt, sie könne den Verlust ihrer Implantate für sich behalten. Es gab schließlich keinen Grund, Matthew Drax zusätzlich mit der Sorge um sie zu belasten.
    Sie würde sterben. Ihr Körper, der seit Jahrhunderten in Symbiose mit den künstlichen Bestandteilen lebte, war nicht mehr in der Lage, ohne diese zu existieren. Dazu gehörte auch Naokis Gehirn.
    Angefangen hatte es mit ihrem linken Arm. Seit Minuten spürte sie ihn nicht mehr. Die Hand hatte sich selbständig zur Faust geballt, die Finger hatten sich dabei so tief in den Kunststoff gegraben, dass die Nägel darin verschwunden waren.
    Wenn Naoki ihren toten Arm betrachtete, erschien er ihr manchmal meilenweit entfernt und manchmal so nahe wie unter einem Mikroskop. Ihre Netzhautimplantate hatten sich abgeschaltet. Nur ein paar Systeme schienen noch zu funktionieren und ermöglichten ihr, die Umgebung zumindest verzerrt wahrzunehmen.
    Wenn nur nicht alles so verwirrend wäre, dachte sie, während jemand, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnerte, auf sie einredete. Naokis Gehirn war zwar zu neunzig Prozent biologisch, doch bestimmte Funktionen wurden trotzdem über Implantate gesteuert. Diese Prozesse liefen jetzt unkontrolliert ab, stürzten sie in ein Chaos aus Halluzinationen und Fehlurteilen. In ihren klaren Momenten wusste sie all das, doch diese Momente wurden seltener, die Verwirrung größer.
    Hatte sie denn nicht getan, was Matt wollte? Mit dem Shuttle konnten sie nicht zur Erde – den Grund dafür kannte sie nicht –, also hatte Naoki die Raumstation auf den richtigen Kurs gebracht. Matt hatte sie doch deshalb zur Navigatorin gemacht, damit sie ihn auf den Weg zur Erde bringen konnte.
    Dorthin mussten sie. Dort wartete Aiko auf sie.
    Aiko. Der Name erschien ihr seltsam vertraut. Es war der Name einer wichtigen Person, die sie wieder sehen würde, sobald sie die Erde erreichten. Und da war noch jemand.
    Miki. Miki Takeo.
    Aiko und Miki.
    Naoki stand auf. Etwas zerrte an ihr, aber sie schüttelte den Druck mit ihrem toten Arm ab. Der Flug zur Erde dauerte ihr zu lange. Es war wohl am besten, wenn sie zu Fuß ging. Wie weit war es noch gleich? Hundert Kilometer?
    Sie runzelte die Stirn. Wenn sie mit einem Schritt einen Kilometer zurücklegte, würde sie nur hundert Schritte brauchen. Das hörte sich nicht lang an.
    Naoki beschloss, sich sofort auf den Weg zu machen.
    Schließlich, so dachte sie, beginnt jede Reise mit dem ersten Schritt.
    ***
    Matt prallte gegen eine offen stehende Tür, als Naoki sich unvermittelt von ihm losriss, und sackte benommen zusammen.
    Sie sagte etwas, das er nicht verstand. Es klang japanisch.
    »Naoki, warte!« Er kam wieder auf die Beine. Seine Brust schmerzte dort, wo die Asiatin ihn getroffen hatte. Ihre Implantate funktionierten vielleicht nicht mehr, doch ihr künstlicher Arm war trotzdem hart wie Stahl.
    Sein Blick glitt erneut zum Fenster. Die Station drehte sich in einem wilden Taumel. Die Kursanzeige und der eigene Blick verrieten, dass die ISS aus ihrer stabilen Umlaufbahn gerissen worden war und der Erde entgegen stürzte. Korrigieren ließ sich das nicht mehr. Die Kräfte, die an der Station zerrten, waren viel zu groß. Die Gravitation eines Planeten stand gegen die Muskelkraft eines Menschen und drei funktionstüchtige Schubdüsen.
    Chancengleichheit konnte man das nicht gerade nennen.
    Am anderen Ende der Brücke stieß Naoki mit der Schulter gegen den Türrahmen, bevor es ihr gelang, den Gang zu betreten. Sie schien fast blind zu sein.
    Matt folgte
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