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137 - Der trojanische Barbar

137 - Der trojanische Barbar

Titel: 137 - Der trojanische Barbar
Autoren: Michael M. Thurner
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richtig zu braten. Ein kleines Feuer genügte, um das Gift im Blut des in Wandlung begriffenen Tieres zu neutralisieren.
    Hastig überhäufte er die Glut mit Schnee und machte seine Spuren mit Reisig unkenntlich.
    Er war heute bereits zwei Mal den Fußstapfen von Menschengruppen begegnet. Beide Male waren es die Fußfellabdrücke von Barbarenhorden gewesen. Auch ihnen wollte er möglichst ausweichen. Sir Leonard hatte sie möglicherweise mit der Suche nach ihm beauftragt.
    Warum diese Flucht?, fragte er sich einmal mehr, während er sich gegen den erneut aufkommenden Sturm vorwärts kämpfte. Es war nichts einfacher, als zurückzukehren in die Wärme des Bunkers und zu erklären, was Sache war und dass er sich unschuldig an den Dingen fühlte, die er unter der Beeinflussung der Daa’murin getan hatte.
    Aber ein kleiner Dämon steckte in ihm, unter seiner Schädeldecke, der ihm sagte, dass es damit nicht getan war.
    Dass noch immer Gefahr von ihm ausging, dass er noch nicht frei war vom Fluch dieser Menschheitsgeißel.
    Solange er seiner selbst nicht sicher war, würde er die Gegenwart der Menschen meiden. Vor allem die der Bunkermenschen von Salisbury und London.
    Gedanken an seinen Vater, den er durch seine Flucht wahrscheinlich noch tiefer in die Grabenkämpfe mit den konservativen Octavianen riss, verdrängte er geflissentlich.
    Es wurde erneut Zeit, einen Unterschlupf zu finden. Eine Höhle oder ein Erdloch, in dem er seine Beine im Gegensatz zu gestern auch ausstrecken konnte.
    Rulfan las die Landschaft. So wie es ihn Mutter gelehrt hatte. Nach Südwesten hin ließ der Baumbewuchs nach. Breite Streifen urbaren, aber ungenutzten Bodens, durch jahrhundertealte Steinhecken voneinander getrennt, zogen sich über die Hügel.
    Die Steinreihen, nur als überhöhte Schneewehen in bizarren Formen erkennbar, boten während der kalten Jahreszeit oftmals größeren und kleineren Räubern Schutz. Und manchmal hatten dort, wo sie unterbrochen waren, wandernde Barbarengrüppchen in den vergangenen Jahrhunderten ihre Toten unter flachen Steinplatten begraben.
    Meist am höchsten Punkt eines sanften Hügels.
    Rulfan schützte sich mit einer Hand gegen die niedrig stehende Sonne im Westen.
    Dort! Unverkennbar eine Art Dolmengrab, aus uralten Traditionen stammend, die wie so vieles in den dunklen Zeitaltern nach Kristofluu wieder belebt worden waren.
    Nachdenklich rieb er sich über den kratzigen Bart und marschierte weiter, den Hügel hinan. Heftig keuchend erreichte er die Grabstelle und schaufelte mit klammen Fingern eine Schneeverwehung beiseite. Nur allmählich wurde der Deckstein sichtbar. Er war flach und grob behauen – und keinen Millimeter zu bewegen.
    Gut so.
    Prüfend blickte Rulfan in den zu einer Seite offenen Hohlraum darunter. Auch hier lag Schnee, doch die relative Windstille stimmte ihn zufrieden.
    Wo war der Tote? Mit mechanischen Bewegungen räumte Rulfan die Gruft weiter frei, bis er auf die ersten Beigaben stieß: kupferne Zahlungsringe an einer Kette, eine grob geformte Bronze-Gemme, ein Halsband aus seltenen Sebezaan-Hauern. Vorsichtig grub er weiter.
    Da! Die fast tauben Finger ertasteten Stoff mit Knochen darunter.
    Für Sentimentalitäten war hier und jetzt kein Platz. Er riss den Leichnam, der großteils nur noch durch die Leinenbekleidung zusammengehalten wurde, hoch – und erschrak.
    Die Beine fehlten.
    Oder?
    Der Albino überlegte, was er über die Riten der Barbarenvölker gelernt hatte. Manche Stämme pflegten seltsame Sitten. Sie trennten die Beine mit Hackbeilen an den Oberschenkeln ab und legten sie kreuzweise über den Kopf des Toten, um Orguudoo beim Einzug ins Reich der Verstorbenen milde zu stimmen. Nur dem Anführer eines Stammes wurde diese Ehre zuteil. Alle anderen mussten aufrecht in die aus gefrorenem Todesatem gebildete Höhle der Urteils einmarschieren und das finale Wort des schrecklichen Gottes über sich ergehen lassen.
    Da waren die Beinknochen. Dort, wo er sie vermutet hatte.
    Auch sie packte er und legte sie sorgfältig ins Freie.
    Es galt pragmatisch zu denken. Nach wie vor hing sein Überleben in der Winterlandschaft an einem seidenen Faden.
    Hier würde er geschützt sein vor den Unbilden des Wetters, Überfällen marodierender, hungriger Barbaren und größeren Raubtieren, die mit ihren feinen Nasen vor dem Hauch des Todes zurück wichen.
    Hier konnte er, wenn ihm das Jagdglück in den nächsten Tagen hold war, in aller Ruhe Kraft tanken – und nachdenken.
    ***
    Rulfan
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