Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
Vom Netzwerk:
Vaters. Sofort begriff sie, daß es sich um das Haus in Châtillon handeln mußte, dessen Adresse mir Colomer auf dem Bahnhof zugerufen hatte. Wie Bob das rausgefunden hatte, wußte sie nicht. (Um das Andenken des Toten nicht zu trüben, erklärte ich es ihr auch nicht.) Hélène Parry hatte dann den nächsten Zug zur Demarkationslinie genommen und die Grenze heimlich überquert. Seit sie in Paris war, verbrachte sie jede Nacht (tagsüber hätte sie Aufsehen erregen können) in dem Haus, auf der Suche nach dem Schatz. Nein, nicht um ihn zu behalten, sondern um ihn der Polizei zu übergeben! An dem Abend, an dem wir sie verletzt aufgefunden hatten, waren die Türen des Hauses aufgebrochen worden. Irgend jemand hatte alle Zimmer auf den Kopf gestellt. Als die geheimnisvollen Besucher wiederkamen, versteckte sich das Mädchen hinter dem Vorhang. Sie erkannte Montbrison und seinen Butler. Der Rest hatte sich so abgespielt, wie ich’s mir vorgestellt hatte.
    „Na ja, dieser Alptraum ist jetzt vorbei“, sagte ich und streichelte ihre zarte Hand. „Hatten Sie Colomer übrigens erzählt, wer Sie tatsächlich sind?“
    „Nein.“
    „Er hat’s geahnt. Wissen Sie, warum?“
    „Wahrscheinlich hat er ein Foto meines Vaters bei mir gesehen... Und dann habe ich einen Fehler gemacht
    „Einen Fehler?“
    „Ich bin am io. Oktober 1920 geboren, nicht am 18. Juni 1921. Am 10. Oktober hat mir Bob Blumen geschenkt, einfach so. Ich habe mich bedankt, hab gesagt, es sei sehr nett, daß er an meinen Geburtstag gedacht habe. Sofort hab ich mich verbessert und irgendeine verrückte Geschichte erfunden. Das muß ihn stutzig gemacht haben...“
    „Vermutlich. Da einige Zeitungsartikel von früher über eine Tochter von Parry berichteten und unter anderem auch ihr Geburtsdatum erwähnten, wird er Ihre wahre Identität geahnt haben.“
    Wir schwiegen eine Weile. Dann fragte ich das Mädchen: „Was werden Sie tun, wenn sie hier rauskommen?“
    „Weiß ich noch nicht“, antwortete sie müde. Ihre wunderschönen Augen sahen mich verführerisch an. „Ich befürchte, daß sich Ihr Freund, der Inspektor, mit mir beschäftigen wird... Gefälschte Papiere...“
    „Ach was! Er wird ‘n Teufel tun. Sie können ganz unbesorgt sein. Und sollte was schieflaufen, sagen Sie mir Bescheid.“
    „Vielen Dank, Monsieur Burma. Bob hat mir oft von Ihnen erzählt. Sagte immer, sie seien ein prima Kerl.“
    „Kommt auf den Tag an.“ Ich lächelte. „Für Sie jedenfalls bin ich jederzeit prima gelaunt. Das Schicksal geht seltsame Wege. Die früheren Feinde Ihres Vaters sind jetzt Ihre besten Freunde. „ Als wir das Mädchen verließen, standen in den wunderschönen, sehnsuchtsvollen Augen Tränen.
    Dorcières brachte uns hinaus. Zum Abschied umklammerte er unsere Hände mit seinen langen Chirurgenfingern. Der Hochmut, den ich noch im Stalag an ihm bemerkt hatte, war von ihm gewichen. Vor uns stand ein völlig neuer Mensch, die Ergriffenheit in Person.
    „Ich bin so glücklich, Monsieur Burma“, sagte er. „So glücklich! Sie ist gerettet. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich Ihnen danke, daß Sie die Verwundete zu mir gebracht haben! ... Großer Gott... Ich konnte sie retten...“
    Als wir um die Straßenecke bogen, bemerkte Hélène lachend: „Donnerwetter! Dieser Dorcières übertreibt ja ganz schön. Ob er verliebt ist?“
    „Nein.“ Ich ergriff ihren Arm. „Nein“, wiederholte ich. „Übrigens wird mir die Geschichte einige Publizität einbringen. Ich würde gerne meine Agentur wieder eröffnen. Können Sie die Brocken bei Lectout hinschmeißen?“
    „Und wie!“ rief Hélène hocherfreut.
    „Gut, dann sollen Sie auch noch den Rest der Geschichte hören... damit Sie verstehen, warum der Chirurg so glücklich ist. Wieviele Tote gibt es Ihrer Meinung nach in dieser Sache?“
    „Zwei. Colomer und Gustave, der Butler. Ach ja, und Jalome. Also drei. Ich glaube, das sind alle.“
    „Sie vergessen die wichtigste Leiche: Georges Parry.“
    „Aber der ist doch eines natürlichen Todes gestorben, oder?“
    „Nein. Dorcières hat ihm eine Spezialspritze verpaßt.“ Hélène konnte ihre Überraschung nicht verbergen und stieß einen Schrei aus.
    „Der Chirurg hatte Parry das Gesicht verändert“, erklärte ich. „Er hat mir heute nacht alles erzählt. Die Operation war ein voller Erfolg. Aber Parry war nicht anständiger als später sein untreuer Vertrauensmann Montbrison. Aus Dankbarkeit für das neue Gesicht hat er dem Doktor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher