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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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Chef hatte uns allgemeine Anweisungen für unsere Arbeit gegeben. Außerdem dankte er uns dafür, daß wir bereits gestern abend viele unserer Kameraden registriert hatten. Er hoffte, daß die Aufnahme in diesem Tempo weiterginge und wir bis spätestens morgen damit fertig sein würden. Für unsere Mühe würde er uns ein Päckchen Tabak pro Mann zuteilen lassen.
    Unterdrücktes Lachen und unbeholfenes danke chen begleiteten diesen Beweis schwarzen Humors. Er verteilte an uns den Tabak, der gestern den Leuten abgenommen worden war, die wir registrieren sollten. Auf ein Zeichen des Dolmetschers hin ließ Cormier von seinen Zähnen ab und öffnete die Tür.
    „Die ersten zwanzig“, rief er.
    Aus dem Haufen Männer, die vor der Baracke standen, lösten sich zwanzig und schlurften in ihren Nagelschuhen herein. Die Arbeit begann.
    Meine Aufgabe bestand darin, jedem unserer Kameraden, die am Abend zuvor aus Frankreich angekommen waren, eine Menge Fragen zu stellen. Ich saß am Ende eines Tisches und füllte mit den Antworten ein loses Blatt Papier, das an die neun Schreiber weitergereicht wurde. Die Angaben gelangten gleichzeitig mit dem betreffenden Mann zu dem Tisch eines jungen Belgiers, der das endgültige Formular ausfüllte und Fingerabdrücke abnahm. Seine Arbeit war wohl komplizierter als meine, auf jeden Fall brauchte er länger dazu. Er war überfordert und bat mich, langsamer zu machen.
    Ich stand auf und wies Cormier an, keine Leute mehr zu unserem Tisch zu schicken. Dann ging ich hinaus auf den matschigen Vorplatz, um mir die Beine zu vertreten.
    Es herrschte schönes Juliwetter. Eine milde Sonne wärmte den Boden. Aus dem Süden wehte ein sanfter Wind. Der Posten auf dem Wachturm ging auf und ab. Sein Gewehr blinkte in der Sonne.
    Nach einer Weile ging ich wieder zurück an meinen Tisch und zog genüßlich an der Pfeife, die ich mir soeben angezündet hatte. Der Belgier war mit der Arbeit nachgekommen, wir konnten weitermachen. Sorgfältig spitzte ich mit meinem Messer den Tintenstift, der von der Schreibstube ausgegeben worden war. Dann nahm ich ein weißes Blatt Papier.
    „Der nächste“, sagte ich, ohne den Kopf zu heben. „Name?“
    „Weiß ich nicht.“
    Erstaunt sah ich den Mann an, der mit tonloser Stimme diese überraschende Antwort gegeben hatte. Groß, hageres, aber energisches Gesicht, etwas über vierzig. Seine Stirnglatze und der struppige Bart gaben ihm ein merkwürdiges Aussehen. Über die linke Wange lief eine häßliche Narbe. Wie ein Idiot knetete er sein Käppi. Er sah uns mit dem Blick eines geprügelten Hundes an. Die Revers seines Mantels waren mit den schwarzroten Spiegeln des 6. Pioniertrupps geschmückt.
    „Wie... weiß ich nicht?“ fragte ich erstaunt.
    „Nein. Ich weiß es nicht.“
    „Und deine Papiere?“
    Er machte eine unbestimmte Handbewegung.
    „Verloren?“ fragte ich.
    „Vielleicht... Weiß ich nicht.“
    „Und deine Kameraden?“
    Er zögerte einen Augenblick, seine Gesichtsmuskeln spannten sich.
    „Ich... Weiß ich nicht.“
    Ein kleiner Mann mit einem Gaunergesicht, der in einer Schlange am Nebentisch gewartet hatte, kam zu mir. Ihm war kein Wort des seltsamen Frage- und Antwortspiels entgangen.
    „Ein schwieriger Fall“, raunte er mir zu.
    Er hatte sich zu mir runtergebeugt. Seine Stimme klang heiser wie die eines Ganoven aus der Unterwelt. Beim Sprechen verzog er den Mund, wohl um gefährlich zu wirken.
    „Ja, ein ganz Schlauer“, fuhr er fort. „Stellt sich seit über einem Monat blöd. Natürlich nur ‘n prima Trick, um sich ausmustern und nach Hause schicken zu lassen.“
    „Du kennst ihn?“
    „Flüchtig. Bin mit ihm zusammen gefangengenommen worden.“
    „Wo?“
    „Bei Château-du-Loir. Ich bin vom 6. Pioniertrupp.“
    „Der auch“, bemerkte ich und zeigte auf die Kragenspiegel.
    „Fall nicht drauf rein. Den Mantel hat er in Arvoures geschenkt gekriegt...“
    „Weißt du, wie er heißt?“
    „Bei uns hieß er La Globule , der Blutkörper... Seinen richtigen Namen, den hab ich nie gehört. Nicht mal ‘ne Zeitung hatte er in der Tasche. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen hab, waren wir schon in Gefangenschaft. Ich erklär’s dir. Wir waren zehn Leute, in einem kleinen Wäldchen. Ein Kamerad kam vom Auskundschaften zurück und warnte uns. Die Deutschen durchkämmten die Gegend. Kurz und gut, wir saßen wie Ratten in der Falle. Von den Feldgrauen bewacht, marschierten wir ganz brav zu einem Bauernhof, wo schon ‘ne Menge von uns
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