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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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Grund für sein entschiedenes Auftreten geben.
    „Na schön“, sagte ich resigniert. „Aber ich kann doch wenigstens auf den Flic warten, oder das etwa auch nicht? Schon alleine, um sicher zu gehen, daß das Verbot auch für ihn gilt. Könnten Sie mir vielleicht etwas Schreibpapier geben? Wissen Sie, immer wenn ich ein paar Minuten Zeit habe, schreibe ich an meinen Memoiren...“
    In Wirklichkeit wollte ich schriftlich meine Gedanken ordnen. Ich zog also Bilanz:
    Colomer trifft H.P. Aus bloßer Freundschaft entsteht ein zärtliches Gefühl (siehe „Küsse“ im Telegramm!). Colomer vermutet (klären, warum!), daß Parry lebt und H. seine Tochter ist, er öffnet ihre Privatpost, um zusätzliche Indizien zu erhalten. Die Vermutungen bestätigen sich, C. notiert sich den verschlüsselten Text. Warum? Aus Spaß, aus einer Art Berufskrankheit; um auf H. Eindruck zu machen, wenn er den geheimnisvollen Text entschlüsselt (d. h.: Seinen Briefgeheimnis-verletzenden Akt eingestehen; aber Eros, der Friedensrichter, wird das schon in Ordnung bringen). C. löst das Worträtsel und legt den Brief wieder an seinen Platz zurück. Darum finden wir ihn in H.’s Handtasche. Er will H. zur 120, rue de la Gare führen, wird aber auf dem Bahnhof erschossen.
    Hat C. bemerkt, daß der Brief den Umschlag gewechselt hat? Ja. Er wurde von demselben Mann erschossen, der später das Haus durchsucht hat. Also hatte C. den Täter entlarvt. Wie? Er weiß, daß es sich dabei um einen Bekannten von H. handelt, dem das Testament bekannt ist. Wenn er nicht weiß, daß dieser „Freund “ Parry gefoltert hat, dann weiß er was anderes, das ihn auf seine Spur bringt. Der Mann — X — ist vielleicht nicht von vornherein entschlossen, Colomer umzulegen. Aber als er ihn auf mich zurennen sieht, drückt er ab. Schlußfolgerung: X kennt mich ebenfalls!
    Warum hat C. es so eilig, mit H. nach Paris zu fahren, daß er sie telegrafisch auffordert, auf dem Bahnsteig zu bleiben f Warum will er heimlich über die Demarkationslinie? Weil er glaubt, daß X den Text noch nicht entschlüsselt hat. Sonst hätte X den Brief nicht an H. geschickt, meint Bob. X will nämlich von dem Mädchen zu dem Vermögen geführt werden. Also ist H. in Gefahr. Bob muß sie im Bahnhof festhalten und sie dazu bringen, sofort mit ihm nach Paris zu fahren.
    „Beißen Sie sich immer auf die Zunge, wenn Sie an Ihre Angebetete schreiben?“ fragte Faroux.
    Ich faltete das Blatt zusammen, bevor der Inspektor mein Geschreibsel lesen konnte. Ich teilte ihm mit, daß Hélène Parry für uns nicht zu sprechen sei. Er wurde wütend.
    „Was regen Sie sich auf?“ fragte ich. „Egal wie, heute abend bei mir zu Hause senkt sich der Vorhang nach dem letzten Akt. Kommen Sie zu meiner Party, und ich liefere Ihnen — sozusagen als Weihnachtsgeschenk — Colomers Mörder, Parrys Quälgeister und die Vandalen aus der Rue de la Gare.“
    Mein Freund zwirbelte seinen Schnurrbart und sah mich an.
    „Etwas viel für einen einzigen Mann“, sagte er lachend.
    Aber in seinem Blick lag grenzenloses Vertrauen.
    Ich betrat gerade rechtzeitig meine Wohnung, um einen Anruf von Gérard Lafalaise entgegenzunehmen, meinem kongenialen Kollegen.
    „Ich war nicht untätig“, sagte er. „Unser Mann war in der Mordnacht auf dem Bahnhof Perrache. Es war ein leichtes für ihn, die Polizeisperre zu passieren. Er kannte fast alle, und keiner der braven Flics wäre auf den Gedanken gekommen, ihn zu verdächtigen... Ich glaube, das wär’s dann. Meine Freunde an den entsprechenden Stellen wundern sich so langsam über meine häufigen Anrufe in die besetzte Zone
    „Fröhliche Weihnachten. Und grüßen Sie ganz herzlich Ihre Sekretärin von mir!“

Der Mörder

    Für eine Weihnachtsgesellschaft war’s ‘ne feine Gesellschaft. Um meine letzten Flaschen hatte sich eingefunden: Seine Rundlichkeit Julien Montbrison, wie immer mit funkelnden Ringen an den Fingern; Marc Covet, der seinen Bleistift schon gespitzt hatte (ohne sein verdammtes Rheuma wäre er der glücklichste Mensch der Welt gewesen); Simone Z., unser Filmstar von morgen, schön wie keine zweite; Louis Reboul, den ich als einen der ersten Kriegsversehrten vorstellte (was auch tatsächlich stimmte); Hélène Chatelain, die ich nur durch tausend untertänigsten Entschuldigungen zum Kommen bewegt hatte; ein Mann mit rotem Gesicht, den ich als Thomas, einen Maler, vorstellte, der aber in Wirklichkeit Petit hieß und ein Flic war (was man aber nicht auf den
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