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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare
Autoren: Léo Malet
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ersten Blick sah); Hubert Dorcières mit seinem Pappmaché-Gesicht, dem ich mit allem möglichen hatte drohen müssen, bis er meine Einladung angenommen hatte (dessen Anwesenheit aber unbedingt nötig sein würde). Er lachte übrigens als einziger nicht über die Witze, die ständig gerissen wurden. Ich war überzeugt davon, daß wir seine Fähigkeiten noch vor Ende der Party brauchen würden. Schließlich befand sich auch noch ein Paar ohne Bedeutung unter den Gästen. Covet hatte die beiden aus dem Café Dôme mitgebracht. Sie hatten sich bisher nur mit meinem Schnaps enger angefreundet. Ach ja, nicht zu vergessen Faroux, der in einem Nebenzimmer saß und mit Hilfe einer genialen Vorrichtung alles mitkriegte, was im Salon passierte und geredet wurde.
    Wie ich schon sagte: eine feine Gesellschaft!
    Nachdem das Grammophon gespielt hatte, spielten wir gemeinsam das „Wahrheitsspiel“. Dabei müssen die Teilnehmer lügen, daß sich die Balken biegen. Als alle genug gelogen hatten, stellte Simone ihr leeres Glas auf den Tisch und sagte in ihrer charmanten Art zu mir:
    „Burma, wollen Sie uns nicht eine von Ihren Detektivgeschichten erzählen? Sie kennen doch bestimmt ganz spannende!“
    Ich zierte mich etwas, ließ mich bitten, gab dann aber nach, als meine Gäste im Sprechchor forderten: „Eine Geschichte, eine Geschichte!“ Denn mit meiner Concierge wollte ich gerade keine erleben. Also begann ich:
    „Es war einmal ein bekannter Gangster...“
    Bald kam ich zu dem Punkt, an dem Dorcières ganz blaß wurde und den Inhalt seines Glases hinunterstürzte.
    „Um den Arm des Gesetzes irrezuführen, inszenierte er seinen Tod und ließ sich von einem Schönheitschirurgen nach allen Regeln der Kunst ein neues Gesicht verpassen. Ich muß sagen, daß der Chirurg ausgezeichnete Arbeit leistete, ein wahres Meisterwerk.“
    Ich war der einzige, der Dorcières Nervosität bemerkte.
    „Nun hatte der Gangster eine Tochter“, fuhr ich in meiner Erzählung fort.
    Ich berichtete von dem Testament, von der Indiskretion des „treuen Freundes“ und von der... hitzigen Auseinandersetzung in dem einsamen Landhaus in der Nähe von La Ferté-Combettes.
    „...In einem Lazarett werden dem Perlendieb die schweren Verbrennungen und die Kopfwunde kuriert. Dann kommt der Mann nach Deutschland in ein Gefangenenlager. Sein Folterknecht hat Pech gehabt. Das Opfer ist nicht gestorben und wird obendrein noch in eben das Stalag geschickt
    „...in dem sich auch der geniale Nestor Burma zu Tode langweilt!“
    „Ganz genau, Monsieur Covet. Im Stalag stirbt der Mann ohne Gedächtnis dann tatsächlich, sozusagen in meinen Armen. Kurz vorher nennt er eine geheimnisvolle Adresse. Ende des 1. Aktes.“
    Ich unterbrachte meine Erzählung, um mein Glas Simone zum Nachfüllen zu geben. Sie tat es, trank es aber selbst aus. Meine Zuhörer wurden ungeduldig und forderten die Fortsetzung der Geschichte. Mit trockener Kehle schilderte ich meine dramatische Begegnung mit Colomer, seinen Tod, seine letzten Worte, die sich wie ein makabres Leitmotiv durch den Fall zogen. Ich glaube, ich war noch nie so gesprächig gewesen wie an jenem Abend.
    „Kommen wir wieder auf den untreuen Vertrauensmann zurück“, fuhr ich fort. „Immer noch mit leeren Händen, schickt er der Erbin das Testament zu. Warum übergibt er es ihr nicht persönlich? Weil der Brief des Vaters nicht mehr in dem ersten Umschlag steckt! Wenn das Mädchen deswegen mißtrauisch wird, kann er behaupten, das Dokument niemals gesehen zu haben, kann überhaupt leugnen, der Mittelsmann zu sein. In dem Brief wird der Name des ,treuen Freundes’ nicht erwähnt. Nachdem er den letzten Brief des Vaters an die Tochter abgeschickt hat, braucht er sie nur zu beobachten und ihr zu folgen. Sie wird ihn schon zu dem Schatz führen. Nun geschieht aber etwas Unerwartetes. Das eigenwillige Mädchen verreist plötzlich. Als der Briefträger den Brief bringt, sitzt sie bereits im Zug. Doch es besteht kein Grund zur Sorge. Der Schatzsucher muß nur warten, bis sie wieder zurückkommt. Das geschieht früher als erwartet. Unser Mann ist über die Rückkehr nicht informiert, dafür aber Colomer, der im Herzen von Mademoiselle Parry einen besonderen Platz einnimmt. Bob hat inzwischen den Brief geöffnet, weil er mehr über die familiäre Bindung von Hélène an George Parry erfahren möchte. Er hat bemerkt, daß der Brief nicht mehr in dem ursprünglichen Umschlag steckt. Wie mir — später — sind ihm die
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