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093 - Neun Leben

093 - Neun Leben

Titel: 093 - Neun Leben
Autoren: Claudia Kern
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bemerkte er, wie Gertruud neben ihm die Hände zu Fäusten ballte. Der Gefangene sah ihn aus dunklen, schmerzerfüllten Augen an.
    Olaaf richtete den Blick zur Decke. Im Gegensatz zu Aruula schien er zum Lauschen keine besondere Körperhaltung einnehmen zu müssen.
    »Osgaard«, sagte er, »der Abgesandte Braandburgs.«
    ***
    Es war nicht ihre dritte Erinnerung, aber wenn sie der Kette der Bilder nachging, aus denen ihr Leben bestand, folgte dieses Erlebnis stets auf die Wagenfahrt mit ihrem Vater und die nächtliche Begegnung in der Höhle.
    Sie wusste nicht, warum die schwarze Wildkatze sie am Leben ließ und ihr sogar erlaubte, sich zwischen ihre eigenen Jungen zu legen. Sie hatte von der Milch der Katze getrunken und später mit den anderen gespielt und gerauft.
    Fast drei Winter lang war sie Teil dieser seltsamen Familie.
    Sie träumte die Träume der Katzen, und ihr Geist verband sich mit den ihren. Manchmal war die Verbindung so stark, dass sie die Beute spüren konnte, die sie rissen, und das Blut schmeckte, das durch ihre Kehlen rann.
    Doch obwohl sie bei ihnen lebte, gehörte sie doch nie richtig dazu. Ihr fehlten die Klauen, das Fell und die Reißzähne. Sie war langsamer, ungeschickter, und ihr aufrechter Gang irritierte die neun Brüder und Schwestern. Also gingen sie vorsichtig mit ihr um, als hätten sie Angst, dieses seltsame Tier in ihrer Mitte zu verletzen.
    Doch eines Tages wurde sie verletzt, auch wenn die Katzen nichts dafür konnten.
    Es war einer dieser sonnigen Wintertage, die den Schnee glitzern lassen und das Auge blenden. Sie hatte mit zwei ihrer Brüder im Fluss gefischt und gute Beute gemacht. Jetzt hockten sie am Ufer, leckten die salzigen Fischschuppen ab und zerteilten den Fang mit Klauen, Zähnen und Fingern. Sie waren so damit beschäftigt, dass sie den Kepir erst bemerkten, als sein gewaltiger Schatten über sie fiel.
    Keiner von ihnen hatte je ein so riesiges Tier gesehen, aber die Gier nach Beute war größer als die Furcht, und so griffen sie ihn an.
    Er schleuderte sie zur Seite wie Blätter im Wind und machte sich noch nicht einmal die Mühe, sie zu verfolgen, als sie blutend und in Panik auf den Waldrand zuliefen. Nur sie, die sich Miouu nannte, verfolgte er. Sie versuchte einen Haken zu schlagen, so wie sie es gelernt hatte, aber er ahnte ihre Bewegung voraus, fing sie mit seinen Pranken ab und schlug zu.
    Sie spürte, wie ihr Genick brach.
    Der Schnee, in den ihr Körper geschleudert wurde, war weich und kalt. Blut lief aus ihrem Mund, und ihr Herzschlag wurde leiser, langsamer. Nach einer Weile sah sie schwarze Körper, die sich um sie scharten, spürte, wie Barthaare über ihr Gesicht strichen. Stimmen raunten in ihrem Geist.
    Dann blieb ihr Herz stehen und sie fiel hinein in eine endlose Dunkelheit. Verzweifelt versuchte sie sich festzuhalten, tastete mit allen Sinnen in die Finsternis - und fand Halt in einer der Stimmen!
    Längst beherrschte ihr Überlebenswille Körper und Geist. Sie dachte nicht mehr rational. Und das war auch gut so, denn mit Logik ließ sich nicht erklären, was nun geschah.
    Miouu wusste, dass sie tot war. Und doch war da eine Verbindung zum Licht, zum Leben. Konnte man sich an einer Stimme, an einer Seele festklammern? Sie tat es - und tauchte Zug um Zug wieder aus der Dunkelheit auf.
    Der erste Atemzug war schwer, beinahe unerträglich. Ihr Genick fand wieder zusammen, die aufgerissenen Adern schlossen sich, pumpten Blut durch ihren erkaltenden Körper.
    Das Herz begann zu schlagen, ihre Muskeln zuckten in Krämpfen.
    Nach einer Weile richtete sie sich auf. Ihre Brüder und Schwestern waren zurückgewichen, standen mit gesträubtem Fell am Rande der Lichtung. Nur ein schwarzer Körper lag noch neben ihr, schlaff und tot, so wie sie es eben noch gewesen war.
    Sie wusste, was geschehen war, auch wenn sie es nicht verstand. Sie hatte ihr Leben gegen das seine getauscht. Etwas in ihr, eine Gabe vielleicht oder ein Fluch, hatte die Verbindung, die zwischen ihr und der Katze bestand, genutzt, um zu überleben. Die anderen hatten das ebenso gespürt wie sie selbst.
    Miouu dachte an den Vater, der sie ausgesetzt hatte, und fragte sich, wen sie in seinem Haus getötet hatte.
    Nach diesem Tag kehrte sie nur noch selten zurück zu den Katzen. Sie verließ den Wald und fand eine Familie, die sie aufnahm. Ihre Geschwister blieben zusammen, zuerst acht, dann sieben, dann sechs.
    Sie waren voller Angst, knurrten Miouu jedoch nie an, wenn sie zur Höhle kam.
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