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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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bestätigte der Irrwisch. »Was denn sonst? Der Kleine hatte ein rudimentäres Grundpotenzial, aber nur durch Stygias Korrekturmaßnahmen wurde er zu dem, was er heute ist. Und morgen steht der nächste Besuchstermin an, aber als ich eben zur Menschenwelt reiste, um nach dem Rechten zu sehen, stelle ich fest, dass Luc nicht mehr da ist. Verstehst du? Mein Versuchskaninchen ist weg!!«
    Stygias Projekt…
    Ohne ein Wort zu erwidern, machte Asmodis kehrt und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Panisch, atemlos. Und er betete zu allem, was ihm unheilig war, dass er noch nicht zu spät war.
    ***
    Bei Lyon
    Luc hasste den Bahnhof fast so sehr wie dessen Namen. Gare de Saint-Exupery, benannt nach diesem beknackten Schriftsteller, der vor Jahrmillionen dieses Buch geschrieben hatte, wegen dem heute noch unzählige Ansichtskarten-Mutanten in Lyon einfielen: »Der kleine Prinz«. Antoine de Saint-Exupery war in Lyon geboren worden, und die Stadt erinnerte an jeder Ecke an ihren berühmten Sohn.
    Luc selbst hatte das Buch nie gemocht. In seinen Augen war das romantischer Kitsch für verliebte Vollidioten, und wohin das führte, wüsste man ja zur Genüge. Umso passender war es, dass Lyon dieses 1994 eröffnete, moderne Ungetüm der Hässlichkeit nach dem ollen Prinzenschreiber benannt hatte. Die knapp 500 Meter lange und 46 Meter breite Bahnhofshalle aus Beton, Stahl und Glas, die zu dieser nachtschlafenden Zeit von diversen gelblichen Lampen angestrahlt wurde, lag etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadtgrenzen und sah aus wie ein Raubvogel. Lauernd und martialisch stand sie da, die stählernen Schwingen erhoben und den gefräßigen Schnabel weit geöffnet. Als warte sie auf Opfer, die sich ihr freiwillig in den Rachen warfen. Für Lyon war sie ein Tor zur Welt, hielten hier doch die TGVs der Strecke Marseille - Paris. Doch für Luc Curdin, der mitten in der Nacht hergetrampt war und beabsichtigte, sich als Schwarzfahrer mit der Bahn bis in die Hauptstadt durchzuschlagen, wirkte sie wie ein Monster. Denen nicht unähnlich, die er vor einigen Tagen im U-Bahnschacht zu sehen geglaubt hatte.
    Der Junge schüttelte den Kopf, um den albernen Eindruck der Bedrohung zu vertreiben, den die Halle in ihm ausgelöst hatte, und ging hinein. Er war noch nie hier gewesen, erkannte aber schnell, auf welchem Gleis die Züge nach Paris abfuhren. Während er dorthin schlenderte und auf einer Bank Platz nahm, ließ er seinen Blick über die Anlage schweifen und stellte fest, dass er offenbar der einzige Reisende war, der sich um diese Zeit hier aufhielt. Die Gänge und Sitzgelegenheiten waren leer, die Schalter und Geschäfte geschlossen. Einmal glaubte er, das Geräusch eines Kehrwagens zu hören, der irgendwo im Gewirr der Gänge seiner Reinigungsarbeit nachging, aber zu sehen bekam er weder den Wagen, noch dessen Fahrer.
    Luc gähnte, legte sich quer auf die Bank und seufzte leise. Zwei Stunden würde es dauern, bis der nächste Zug eintraf. Bis dahin konnte ein kleines Nickerchen sicher nicht schaden. Binnen Sekunden, nachdem er die Augen geschlossen hatte, war der Junge eingeschlafen.
    Und er träumte.
    ***
    Luc sieht ein Mädchen, dass er nicht kennt. Japsend liegt sie auf dem gefliesten Boden eines Zimmers, dessen genaue Beschaffenheit in einem dichten Nebel verborgen bleibt. Nur dieses Mädchen erkennt er gut, sieht, wie ihre Augen groß und größer werden, wie sie panisch und mit zitternden Händen an ihren Hals greift. Sie erstickt, so sieht es zumindest aus. Und irrt er sich, oder klebt ihr da Babybrei an der Hose?
    Dann sieht Luc eine Krankenschwester, die über dem Tisch des Schwesternzimmers eingeschlafen ist. Irgendetwas an ihr kommt ihm bekannt vor, so als hätte er sie vor langer Zeit einmal gesehen, aber er kann es nicht festmachen. Die Schwester zuckt und murmelt im, Schlaf. Unfassbares Grauen liegt auf ihren Zügen, als erlebe sie gerade den schlimmsten Albtraum ihres Lebens.
    Ein weiteres Bild erscheint im Nebel und löst das vorherige ab. Luc sieht… Thierry Lecroix, und den kennt er wirklich. Das arrogante Arschloch war eine Zeit lang in Lucs Klasse gewesen und hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn zu hänseln. Irgendwann ist Thierry dann nicht mehr aufgetaucht. Es hieß, er sei gestorben, aber Genaueres hat Luc nie erfahren. Er hat auch nie gefragt.
    Abermals Nebel. Dann… Luc schreit auf, als er dieses letzte Bild sieht. Etienne, die Knie angewinkelt, die Arme vorausgestreckt. Auf die sich unaufhaltsam
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