Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
Vom Netzwerk:
nähernde U-Bahn zu.
    ***
    Luc.
    Der Schrei, mit welchem er aufwachte, war noch nicht ganz verklungen, als der Junge schon die Stimme hörte. Leise und sanft strich sie durch die verlassenen Gänge des Fernbahnhofs, des Raubvogels, über Fahrplanständer und Automaten, Bänke und Kofferkulis hinweg, die Rolltreppen hinunter und an den verriegelten Türen und Fenster der Cafés, Restaurants und Geschäfte vorbei.
    Luc.
    Sie war nicht natürlichen Ursprungs, das spürte er sofort. Zu präsent, zu deutlich war das Wort, als das ein lebendes Wesen es hätte aussprechen können.
    Luc. Komm zu mir.
    Und Luc Curdin, schlaftrunken und verwirrt, erkannte sie, merkte, wer ihn da rief. Ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken, erhob sich der Junge von der Bank, auf der er gelegen hatte, und folgte dem Klang der Stimme.
    Sein Weg führte ihn durch Flure und an geschlossenen Kiosks vorbei. Wie ein Träumender im Schlaf eines anderen marschierte Luc durch den Bahnhof, das einzige atmende Geschöpf weit und breit, und nichts als die Stimme war sein Begleiter. Sie sang für ihn, rief nach ihm, verführte ihn dazu, die richtige Richtung beizubehalten und dem entgegenzugehen, was dort, wo sie ihn haben wollte, auf ihn wartete. Es war die Stimme seiner wahren Familie, die Stimme Le Pens. Des Mannes mit den unglaublichen Fähigkeiten und dem großen Versprechen.
    Also doch.
    Schließlich erreichte Luc einen Gang, in dem eine Tür aufstand, einladend und mahnend zugleich. Er zögerte nicht. Sobald er über die Schwelle getreten war, schloss sich die Tür hinter ihm, aber das nahm der Junge nur noch am Rande war.
    Er befand sich nun in einem Abstellraum. Das schwache Licht einer mehrere Meter vor ihm befindlichen Deckenlampe wurde durch allerhand Gerümpel nahezu völlig verdeckt. Pappkartons stapelten sich neben Reinigungsutensilien, Gleisbeschilderung lag neben ausrangierten Werbebannern, selbst alte Fahrkartenautomaten standen in einer Ecke und rosteten vor sich hin.
    Luc spürte weder Angst noch Aufregung. Er wusste - wusste nun mehr als je zuvor -, dass er hier richtig war. Dass dies sein Moment war, seine Chance, doch noch dazuzugehören.
    »Ich bin hier«, sagte er in die Stille des Raumes hinein, und sofort erklang Le Pens Stimme wieder in seinem Geist.
    Wenn du dies hörst, Luc, hast du es bis hierher geschafft , sagte sie. Es klang wie eine Aufnahme, eine verbale Hinterlassenschaft, die nur für ihn bestimmt war. Dann bist du meinem Ruf gefolgt, wie ich es von dir erwartet habe. Wir werden uns wieder sehen, mein Freund. Diesseits der Grenze, dort, wo deine wahre Familie auf dich wartet. Wenn du dich weiterhin so verhältst. Geh nun voraus, dem Licht entgegen, und sieh, was dort auf dich wartet.
    Luc ging weiter, vorbei an den Kartons und anderen Gegenständen - und blieb abrupt stehen!
    Direkt vor ihm, unter der gelbliches Licht verbreitenden kleinen Deckenlampe, befand sich ein dicker Holzpfosten von etwa zwei Metern Höhe, und rücklings daran gestellt ein Mensch. Er rührte sich nicht. Seine Arme waren nach hinten gezogen, die Handgelenke mit dicken Schnüren aneinander gebunden, und auch um Oberarme und Oberkörper wickelte sich eine Fessel. Die Füße waren mit Lederriemen an den Holzpfosten fixiert, und das Gesicht der Person war unter dem breiten Knebel und der weißen, straff sitzenden Augenbinde nahezu verborgen.
    Dennoch erkannte Luc sie sofort. Selbst ohne das Sommerkleid hätte er sie erkannt.
    Die blasse, schweißüberströmte Haut, das zerzauste, rotblonde Haar… das war Marie.
    »Was…«, begann er, doch Le Pens Tonbandstimme fiel ihm ins Wort.
    Es ist Zeit, Luc Curdin. Zeit für dich, uns zu zeigen, dass du zu uns gehörst. Dass du das Talent hast, das ich in dir erkannt habe. Atemlos hörte Luc zu, den Blick dabei stets auf die ohnmächtige Marie gerichtet. In diesem Raum, unsichtbar für deine Augen, befinden sich diverse Gegenstände. Einzig ein Mensch mit magischer Begabung ist in der Lage, sie sichtbar zu machen. Luc, deine wahre Familie hofft, dass du deinen Geist öffnest und den einen Gegenstand in die Realität hinüberzwingst, den anzuwenden sie von dir erwartet.
    Die Worte waren klar und deutlich, doch ihr Inhalt unfassbar. Eigentlich.
    Luc aber fühlte eine ungeahnte Sicherheit in sich aufsteigen. Während er da stand, inmitten einer eigentlich absurden Situation, fühlte er sich mit einem Mal so selbstbewusst, wie nie zuvor. Es war, als wüsste er nun endlich und mit einer Klarheit, die ihn fast
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher