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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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»Well now I'm no hero, that's understood. All the redemption I can offer, girl, is beneath this dirty hood, with a chance to make it good somehow. Hey, what eise can we do now, except roll down the window and let the wind blow back your hair?«
    Bruce Springsteen, Thunder Road
    ***
    Wie lange war es her, dass sie den beiden Amerikanern begegnet war? Marie hatte jegliches Zeitgefühl verloren, und doch erinnerte sie sich genau an die Szene. Sie war gerade aus dem cinéma en piain air gekommen, welches die Stadtverwaltung in den frühen Sommermonaten immer am Ufer der Saône veranstaltete. Früher hatte sie diese Filmabende immer mit Emmeline bestritten, doch seitdem ihre Freundin zum Studium nach Straßburg gewechselt war, ging sie allein hin.
    Und auch zurück. Genau darin lag das Problem.
    Es war spät geworden heute, viel später als sonst. Die Sonne hatte sich hartnäckig am Himmel gehalten und dafür gesorgt, dass Jean-Paul Belmondo erst mit deutlicher Verzögerung über die Freilichtleinwand hetzen konnte. Doch Marie war bis zum Abspann sitzen geblieben. Das war sie Jean-Paul schuldig.
    »À bout de souffle« - sie liebte diesen Film, wie überhaupt vieles aus dem Kino der Nouvelle Vague - und auch wenn sie es ihren Eltern in Toulouse gegenüber nie zugegeben hätte, hatte die Tatsache, dass hier in Lyon die Brüder Lumiere im Jahr 1895 den allerersten Film der Welt gedreht hatten, einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl ihres, Maries, Studienortes gehabt.
    Irgendwann war Jean-Paul alias Michel Pioccard schließlich im Kugelhagel der Gendarmerie gestorben, und Marie hatte endlich den Heimweg antreten können. Und sie hatte es schon fast bis in ihre Nachbarschaft geschafft, war still und in Gedanken noch immer an Jean-Pauls jugendlichem Lächeln hängend durch die menschenleeren Straßen spaziert, als sie an der kleinen Bar vorbeigekommen war, aus deren Fenstern noch immer Licht hinaus auf die Straße fiel.
    Marie hatte lautes Lachen und Gesang gehört, trotz der geschlossenen Tür. Betrunkene Klänge, die latent schon ins Aggressive übergingen. Sie hatte ihren leichten Mantel zugezogen und ihre Schritte beschleunigt, doch da war die Tür aufgegangen und die zwei Kerle waren schwankend hinausgetreten, direkt in ihren Weg.
    Es waren große, breitschultrige Jungs von siebzehn oder achtzehn Jahren gewesen. Ein wenig grobschlächtig und tumb vielleicht, aber dennoch ansehnlich. Von der Quarterback-Sorte, die in den unsäglichen amerikanischen Teenie-Filmen immer die Schulschönheit abbekam und mit ihr zum Ball ging. Beide hatten Shorts über ihren braun gebrannten Beinen getragen und T-Shirts, die dem Aussehen nach seit Tagen nicht mehr gewechselt, geschweige denn gewaschen worden waren.
    Marie hatte die Spezies sofort erkannt: Backpacker. Junge Rucksacktouristen, die sich für kleines Geld ein paar Wochen durch Europa schnorrten, bevor es auf die Uni oder ins Berufsleben ging, und die das dann ihren neidischen Freunden zu Hause als Abenteuer verkauften. Und diese beiden waren sturzbetrunken gewesen.
    »Gosh, sweetie, where did you come from?«, hatte der Erste gelallt, sie von oben bis unten gemustert und sich nicht weiter darum gekümmert, dass sein undeutliches Englisch hier nicht gerade Landessprache war.
    »Pardonnez-moi«, hatte Marie erwidert und versucht, sich an ihm vorbeizudrängen, doch entgegen seines alkoholisierten Aussehens hatte der Ami noch erstaunlich schnell reagiert.
    »Moment mal, Mädchen«, hatte er auf Französisch gemurmelt, sie grob am Arm gegriffen und festgehalten. Und dann war es losgegangen.
    Aus vermeintlichem Spaß war schnell Aufdringlichkeit geworden, und irgendwann hatten die zwei kapiert, dass Maries Ablehnung ihrer ungeschickten Flirtversuche ernst gemeint war. Wie sie befürchtet hatte, war das eine Reaktion, für die in ihren betrunkenen Quarterback-Hirnen kein Platz mehr gewesen war.
    Und nun lief sie, seit Minuten schon, die sich wie Ewigkeiten anfühlten, und hatte längst jegliche Orientierung verloren. Sie wusste nicht mehr, wo sie war; es war auch egal, denn alles was zählte, war größtmögliche Distanz zwischen die beiden Jungs und sich selbst zu bringen. Vielleicht fand sie ja noch einen Passanten, der ihr half. Vielleicht war noch nicht ganz Lyon ins Bett gegangen. Vielleicht kam sie tatsächlich noch unbeschadet aus dieser Sache raus.
    Immer weiter rannte die junge Frau, vorbei an dunklen Fenstern und parkenden Autos, den Berg hinauf, der zur Basilica und somit
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