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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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in ihr Viertel führte. Und plötzlich, in einer dunklen Seitengasse irgendwo im Straßengewirr der Innenstadt, hörte sie ihre Stimmen wieder. »Brewster, over here!«
    Sie wusste nicht, woher er kam, doch mit einem Mal war er da: der Größere der beiden, blond und unrasiert. Er packte sie von hinten, zog ihr an den Haaren und drückte sie zu Boden. Und Marie begriff, dass es tatsächlich passieren würde. Hier.
    Sie schrie und wehrte sich nach Leibeskräften, doch der Blonde ließ nicht los. Mit Händen und Füßen schlug, trat und kratzte sie ihn, doch dann war sein Kumpel heran, beugte sich zu ihr und hielt ihre Beine fest.
    »She's a wild one, all right«, sagte er, und es klang ganz und gar nicht mehr nach einem amerikanischen Milchbubi. Mit einem Mal fragte sie sich, wie vielen Frauen diese beiden wohl schon begegnet waren, deren Nein für sie wie ein Ja geklungen hatte.
    Wie grausame Schatten beugten sie sich über Marie, näherten sich ihr…
    ... und dann war einer fort.
    Von einem Augenblick zum anderen war die zweite der beiden Gestalten verschwunden, buchstäblich, als hätte eine unsichtbare Kraft sie von den Füßen gerissen und nach hinten gezerrt, raus aus Maries Sichtfeld.
    Verdutzt blickte sein verbliebener Kompagnon zur Seite. »Thomas? Where'd ya go, buddy?« Er kicherte debil, als vermutete er einen Scherz.
    Und Marie nutzte die Gelegenheit. Noch einmal setzte sie dem Blonden all ihre Kraft entgegen, bäumte sich gegen den Druck seiner Arme - und kam frei. Mit einem lauten Geräusch zerriss ihr Kleid, als sie sich aufrichtete, doch sie registrierte es kaum. Ohne darüber nachzudenken, atmete sie tief ein, winkelte das rechte Bein an und trat dem Amerikaner gegen den Brustkorb, noch bevor dieser überhaupt reagieren konnte.
    Dann kamen die Schreie! Spitz und schrill hallten sie von den Hauswänden wider, die rechts und links der schmalen und kaum beleuchteten Gasse standen. Und sie stammten nicht von ihm.
    »Thomas?« Der Blonde keuchte erschrocken auf und drehte sich um, als wäre Marie gar nicht anwesend.
    Irgendetwas… geschah in der Gasse hinter ihnen, dort, wo selbst das Licht der Straßenlaternen nicht mehr hinreichte. Marie war, als sähe sie einen dunklen Schemen, eine riesige Gestalt aus Substanz gewordener Schwärze, die in ihren Klauen eine Puppe hielt und sie schüttelte. Immer wieder schüttelte.
    Nein , dachte sie plötzlich. Keine Puppe. Einen Menschen.
    Marie Dupont wusste nicht, wie sie diesen Anblick einordnen sollte. Ja, sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt der Wahrheit entsprach oder nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie war, aus dem Schock geboren. Doch sie spürte instinktiv, dass sie nicht bleiben wollte, um es herauszufinden. Ohne sich ein weiteres Mal nach dem Amerikaner umzusehen, nahm die zwanzigjährige Studentin die Beine in die Hand und lief davon.
    ***
    Marie war schon weit, als die mit aktiviertem Alarmlicht durch die nächtlichen Straßen Lyons rasenden Polizeiautos sich dem Tatort näherten. Ein Anwohner musste sie verständigt haben, beunruhigt von dem lauten und immer verzweifelter werdenden Geschrei erst eines, dann eines zweiten Mannes. Geschrei, das geklungen hatte, als sei es unter Schmerzen und in absoluter Todesangst geboren worden.
    Und das schließlich verstummt war.
    Sie hatte nicht mehr gesehen, wie ein schnauzbärtiger Mann aus der Gasse getreten war, den Mantelkragen hochgeschlagen und den Kopf gesenkt. Wie er sich schnell nach rechts und links umgedreht hatte, als wolle er sichergehen, auch ja nicht gesehen zu werden. Dann war er schnellen Schrittes weitermarschiert, stets bemüht, aus dem Lichtkegel der Straßenlaternen zu bleiben.
    All das bekam Marie nicht mehr mit. Doch wäre sie noch da gewesen, hätte sie vielleicht die dunkle Flüssigkeit bemerkt, die auf den Lippen des Unbekannten geschimmert hatte, wann immer ein schwacher Strahl der Laternen auf diese gefallen war, und die ihm wie ein dünnes Rinnsal von dort über das Kinn getropft war.
    Und vielleicht wäre sie auch ihr wie Blut vorgekommen.
    ***
    Hölle, zur gleichen Zeit
    Stygia kochte.
    Die frisch gebackene Ministerpräsidentin der Hölle hatte allen Grund zur Freude, und doch kam ihr kein Jubellaut über die unheiligen Lippen, während sie die Hallen ihrer neuen Wirkungsstätte durchschritt. Wieder und wieder war sie schon im Kreis gegangen, hatte einen Raum nach dem anderen durchquert und jeden Irrwisch, jedes niedere Dämonen- und Dienerwesen, das es gewagt hatte, ihr auf
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