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0095 - Yama, der Totengott

0095 - Yama, der Totengott

Titel: 0095 - Yama, der Totengott
Autoren: Hans Wolf Sommer
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»Meister«, sagte er beschwörend, »gib uns ein Zeichen. Lass uns wissen, wo wir dich suchen müssen!«
    Der alte Mann richtete seine umflorten Augen auf ihn. Seine rissigen Lippen bebten, als er mit sichtlich großer Anstrengung den Mund öffnete.
    »Ich weiß noch nicht, ob ich wiederkehren werde«, hauchte er beinahe tonlos. »Ich bin müde, unendlich müde. Jahrzehnte, Jahrhunderte, immer wieder… zu viel, viel zu viel…«
    Er schloss die Augen, ließ den Kopf, den er leicht angehoben hatte, wieder zurücksinken.
    »Meister!«, rief Blo-lugs-pa erschrocken. »Du darfst uns nicht verlassen.«
    Der Abt schlug die Augen wieder auf. Sein Blick war entrückt, so als sei er bereits in die Unendlichkeit gerichtet.
    »Warum nicht?«, fragte er leise.
    »Wir brauchen dich, Meister! Wir alle - die Adepten des Tschöd, das Land, das Volk.«
    »Tritt du an meine Stelle, Blo-lugs-pa. Du hast den elften Tschöd gemeistert…«
    »Nur den elften, Meister, nicht den zwölften. Ich bin nicht weise, nicht stark genug, der Tschöd-po-Lama zu sein. Die bösen Söhne aus dem Reich der Mitte knechten, unterdrücken und verfolgen uns. Die schrecklichen Priester des Bon erheben wieder allerorts ihr teuflisches Haupt. Dämonen und Geister belagern das Monastür. Ohne dich sind wir verloren.«
    Der nach dem Abt ranghöchste Lama des Schlangenklosters schwieg. Die anderen Mönche bekundeten Zustimmung zu seinen Worten. Auch sie flehten den Meister an, ihnen in diesen schweren Zeiten nicht den Rücken zu kehren.
    Völlig reglos lag der Tschöd-po-Lama da. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Nur die Augen verrieten, dass er das Diesseits noch nicht verlassen hatte.
    »So sei es denn«, sagte er mit brüchiger Stimme nach einer ganzen Weile. »So wisset, dass ich in das ferne Land jenseits des Dalai gehen werde. Suchet mich dort, wenn ihr glaubt, nicht ohne mich sein zu können.«
    Ein tiefes Aufatmen ging durch die Reihe der weißgekleideten, Mönche. Der Meister würde ihnen erhalten bleiben. Aber noch waren sie nicht zufrieden.
    »Gib uns ein Zeichen, Meister«, drängte Blo-lugs-pa. »Das Land jenseits des Dalai ist riesengroß und…«
    »Fragt nicht mich, fragt das Orakel«, antwortete der Abt mit einer Stimme, die kaum noch zu verstehen war.
    Es waren seine letzten Worte. Die Lider glitten über seine Augen, die über der Brust gekreuzten Hände verkrampften sich leicht und ein beinahe befreit klingendes Stöhnen drang über seine Lippen. Dann nichts mehr.
    Der Tschöd-po-Lama war tot.
    Minutenlang noch hielten die Mönche die Totenwache. Sie nahmen Abschied von dem großen Gum, dem es als einzigem in den letzten zweihundert Jahren gelungen war, die zwölfte Tschöd-Prüfung zu bestehen, ohne dabei dem fürchterlichen Yama oder dem rettungslosen Wahnsinn zum Opfer zu fallen.
    Anschließend verließen sie die Zelle des Meisters, die genauso karg war wie ihre eigenen. Sie stiegen hinab in die tiefste Gruft des Schlangenklosters, in die Gruft des Orakels.
    Die Gruft des Orakels war nicht von Menschenhand erbaut worden. Es war eine natürliche Höhle, tief in den Fels eingebettet, die einst den dämonischen Kreaturen des fürchterlichen Yama als Wohnstatt gedient hatte. Die ersten Tschöd-Lamas hatten die Dämonen gebannt und über der Gruft den Schlangentempel errichtet. Die Gruft war voller Magie und musste ständig gegen die Dämonen verteidigt werden, die immer wieder versuchten, ihre Wohnstatt erneut in Besitz zu nehmen.
    Die rohen Felswände der großen Höhle waren über und über mit schützenden Bannsprüchen bedeckt. Zwei Mönche, die die achte Tschöd-Prüfung erfolgreich abgelegt hatten, verrichteten zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren Dienst als Schutzwächter. Sie sprachen die alten Gebete, um die Dämonen auf Distanz zu halten.
    Als die Adepten der höchsten Tschöd-Grade kamen, um das Orakel anzurufen, verließen die beiden Rangniedrigeren ehrerbietig die Gruft. Ihre Wächterdienste wurden jetzt nicht benötigt; denn die bloße Präsenz der hohen Geshe genügte, um den Dämonen Einhalt zu gebieten. Außerdem war die Orakelzeremonie nicht für Augen und Ohren von Adepten des achten Grades bestimmt. Nur die hohen Priester durften daran teilnehmen. Die Zeremonie begann. Räucherwerk, bestehend aus den fünf überlieferten Essenzen, wurde in den Becken entzündet. Drei Mönche des neunten Grades ließen sich in der Lotus-Stellung vor der großen Buddha-Statue nieder und versenkten sich in der Schlangenmeditation des
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