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0911 - Nachtgestalten

0911 - Nachtgestalten

Titel: 0911 - Nachtgestalten
Autoren: Simon Borner
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kleinen Flügel vibrierten nervös. »Aber es ist wieder an der Zeit für Ihr Projekt, Durchlaucht.«
    »Projekt? Was in Teufels Namen redest du bloß? Welches Projekt?« Doch noch während die Worte ihren wohlgeformten Mund verließen, begriff Stygia. Das meinte er also? War das wirklich schon wieder ein Jahr her?
    Sie seufzte. »Es ist viel passiert in den letzten Wochen und Monaten. So viel, dass mir manche ›Kleinigkeit‹ aus früheren Zeiten gelegentlich entfällt.«
    »Verständlich, Euer Abscheulichkeit, nur zu verständlich.«
    Es lag etwas triefend Untertäniges in Rachbans Tonfall, das Stygia abermals an die Grenzen ihrer Geduld brachte. »Freut mich, dass du mir zustimmst«, sagte sie lauernd. »Dann verstehst du sicher auch, dass mir in diesem Jahr die Zeit fehlt, mich abermals unserem Projekt zu widmen.«
    Ruckartig hob Rachban den Kopf und sah seine Präsidentin ungläubig an. »A… aber Durchlaucht! Damit würdet ihr die Versuchsbedingungen nachhaltig beeinflussen. Um nicht zu sagen, die Arbeit von Jahren zunichte mach…«
    »Es gibt Wichtigeres, Rachban!« Stygias Stimme war schneidend wie ein Dolch und unterbrach den Irrwisch mühelos. Das Balg hatte wieder begonnen, die Ministerpräsidentin mit Tritten zu traktieren, und ihre ohnehin schon schlechte Laune ging rapide in den Keller. Um ihre Wut nicht an Rachban auszulassen, griff Stygia in den breiten Korb, der neben ihrem Thron stand und regelmäßig mit frischen Menschenköpfen und anderen Körperteilen gefüllt wurde, riss zwei Augäpfel aus einem abgetrennten Schädel und warf sie in einen Kelch mit köstlichem »Höllennektar«, welcher ihr ein sofort herbeigeeilter Leibdiener wortlos reichte. Die heiße Flüssigkeit zischte und brodelte.
    »Oder findest du nicht?«, fügte sie ihrer letzten Bemerkung hinzu, wohl wissend, dass Rachban das Schauspiel genau beobachtet hatte.
    »Nein«, sagte er auch sofort mit piepsiger, brüchiger Stimme, räusperte sich und wiederholte abermals: »Nein, nein. Natürlich. Ihr… seid beschäftigt, ja. Was auch sonst?« Mit jedem weiteren nervösen Wort machte Rachban einen Schritt rückwärts und entfernte sich von ihrem Thron, ohne dabei den noch immer qualmenden Kelch aus den Augen zu lassen. Stygia sah die Angst in seinen Augen, und für einen kurzen Moment gelang es ihr, sie zu genießen.
    »Ist ja auch nicht weiter wichtig«, sagte Rachban, als er die Tür hinter sich öffnete, durch die er eben erst eingetreten war. Kalter Schweiß glitzerte auf seiner ledrigen Stirn und sein Adamsapfel zitterte. »Es… es war auch nie wirklich mehr als ein Zeitvertreib, richtig? Natürlich nicht; nur eine belanglose Beschäftigung, die uns damals Kurzweil brachte. Aber nun sind andere Zeiten angebrochen. Natürlich. Man muss Schlussstriche ziehen, das ist nur verständlich.«
    Dann war er fort, und Stygia glaubte, den Irrwisch noch jenseits der Tür zittern sehen zu können. Sie schmunzelte. Und doch konnte sie nicht umhin, Rachban für seine Treue zu bewundern. Nach allem, was geschehen war, hatte er doch diesen Tag nicht vergessen, und auch nicht ihr »Projekt«. Ganz im Gegensatz zu ihr.
    ***
    Château Montagne, zur gleichen Zeit
    Nicole Duval gähnte, lang und herzhaft. Dann streckte sie den rechten Arm nach oben und dehnte ihre Muskulatur, bis die Schulterknochen leise knackten. Seit Minuten schon schlich sie durch das dunkle Haus, und noch immer hatte sie die Andenken des Schlummers, aus dem sie vor kurzem erst erwacht war, nicht ganz abschütteln können. Allein erwacht! , betonte sie in Gedanken, denn als sie sich im Bett umgedreht hatte, war die andere Hälfte der Matratze leer gewesen. Die Seite, die Zamorra gehörte.
    Nicole hatte keine Ahnung, wohin ihr Chef und Partner mitten in der Nacht verschwunden war, aber sie hatte nicht vor, sich wieder hinzulegen, bis sie es in Erfahrung gebracht hatte. Zu viel war in den letzten Wochen geschehen - der Tod von Merlin, die unerklärlichen Fehlfunktionen des Amuletts, jetzt die Sorge um Fooly -, als dass sie hätte einschlafen können, ohne nach ihm zu sehen.
    Als sie in den nächsten Flur des Châteaus einbog, wurde ihr manches klar. Am Ende des Ganges - dort, wo sich Zamorra das Computerzimmer eingerichtet hatte - schien Licht unter einer geschlossenen Tür durch. Nicole näherte sich ihr, klopfte einmal kurz und öffnete sie dann kurzerhand.
    Das Innere des kleinen Raumes war ein einziges Chaos. Vollgestopfte Bücherregale und kostbar aussehende Sternkarten
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