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091 - Die Braut des Hexenmeisters

091 - Die Braut des Hexenmeisters

Titel: 091 - Die Braut des Hexenmeisters
Autoren: John Willow
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mit stechenden, kalten Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Ein sehr ungleiches Paar, dachte Manon. Wahrscheinlich spielten hier nicht nur spiritistische Motive eine Rolle. Diese Madame Brasson sprühte vor Sinnlichkeit.
    Das ganze Gegenteil davon war Mademoiselle Yvette Lescaut, die eine kleine private Arbeitsvermittlung in der Nähe des Gare du Nord besaß. Zufällig war Manon heute nachmittag kurz nach ihrer Ankunft in Paris dorthin geraten und hatte nach einer Stelle gefragt. Ein Zufall? dachte Manon jetzt zweifelnd. Irgendwie schien nichts mehr Zufall zu sein, seit sie hier in Paris eingetroffen war.
    Yvette Lescaut hatte kein Wort mit Manon gesprochen. Im Gegenteil – sie benahm sich so, als hätten sie sich zuvor noch nie gesehen. Yvette war eine ältliche, hagere Frau mit spitzer Nase und dünnen Lippen. Sie trug ein weißes Kleid, das ihr um die mageren Glieder schlotterte und im Zwielicht phosphoreszierte. Sie trug eine Stirnbinde mit einem Pentagramm und um den Hals ein Amulett an einer Kette. Sie war das Medium an diesem Abend, und ihr Blick war ausdruckslos, ganz nach innen gerichtet.
    Neben Yvette saß der Meister. In seinem schwarzen, weiten Talar, der mit Symbolen der Himmelskörper bestickt war, glich er einer riesigen Fledermaus. Manon konnte sein Gesicht nicht sehen, schloß aber aus den Äußerlichkeiten, daß er wohl auch nur ein ganz gewöhnlicher Mann war. Irgendwie enttäuschte sie das. Doch dann merkte sie, daß er über den Tisch hinweg nicht Madame Brasson anschaute, die ihn mit ihren Blicken verschlang, sondern nur sie – Manon. Sie spürte diesen Blick, obwohl sie den Kopf senkte. Es war ein fast greifbarer Blick, ein prickelnder elektrischer Strom, der durch ihre Brüste und ihren Magen zu fließen schien.
    Und dann auch durch ihre Hände. Sie spürte es ganz deutlich – ein Strom floß durch den Kreis der geschlossenen Hände.
    Manon blickte verstohlen um sich. Sie nahm alles ganz entspannt und locker wahr, während die anderen ein wenig verkrampft nach vorn gebeugt dasaßen. Sie sah, wie sich die Nackenhaare bei Madame Brasson sträubten, und bei Madame Robin kleine blaue Funken zwischen den silbernen Löckchen übersprangen. Interessant, dachte sie kühl. Im gleichen Moment begann Yvette Lescaut zu stöhnen. Sie wand sich hin und her. Peinlich, dachte Manon, sogar ein bißchen obszön.
    In der Mitte des Tisches lag ein verwitterter Totenschädel, eingerahmt von Arm- und Beinknochen in Form eines Pentagramms.
    Und da geschah es. Ganz plötzlich, für Manon vollkommen überraschend.
    Der Schädel färbte sich grün. Erst war es nur ein winziger Funke auf der Knochennaht. Doch dieser Funke breitete sich rasch aus, bis der ganze Schädel in einem überirdischen grünlichen Licht leuchtete. Dann sprang der Funke über auf die anderen Knochen. Manon starrte fasziniert auf das leuchtende Pentagramm aus Menschenknochen. Ein Trick?
    Verstohlen sah sie sich wieder um und zuckte zusammen. Entweder hatte sie eine Halluzination, oder die anderen Teilnehmer am Tisch waren blind. Außer ihr schien niemand dieses Leuchten zu bemerken. Selbst das Medium nicht. Yvette starrte immer noch auf den Schädel und die Knochen. Das Glühen hatte inzwischen eine Helligkeit erreicht, daß Manon fast geblendet die Augen schloß.
    Yvette warf sich plötzlich mit einem so heftigen Ruck nach vorn, daß sie fast die Kette der verschlungenen Hände zerrissen hätte. Ein langes Stöhnen, fast ein Wimmern, brach aus ihr hervor. „Eine arme Seele bittet um Hilfe“, sagte sie mit einer ganz fremden, merkwürdig hohl klingenden Stimme. „Sie sucht Erlösung – die ewige Ruhe. Es ist ein Mann. Er starb durch die Hand des Henkers.
    Er ist unschuldig.“ Das letzte Wort schrie sie fast heraus. Es herrschte wieder Totenstille. Nur ein Luftzug strich durch den Raum.
    Und dann ertönte eine Stimme, die Manon zutiefst erschütterte. Sie erstarrte schon beim ersten Laut.
    „Manon Regnard!“ rief die Stimme. Sie kam zuerst von oben, dann aus allen Richtungen. „Manon Regnard, Manon Regnard!“ Immer wieder, immer lauter, dröhnend und voll wie ein riesiger Gong.
    Manon wollte fliehen, sich verkriechen vor dieser überirdischen Helligkeit und dieser schrecklichen Stimme. Doch Ihre Anstrengungen waren vergeblich. Sie wurde von dem elektrischen Strom der verschlungenen Hände an ihrem Platz festgehalten. Sie rollte die Augen. Und da merkte sie, daß nur sie diese Stimme hörte. Die anderen saßen immer noch apathisch oder
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