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091 - Die Braut des Hexenmeisters

091 - Die Braut des Hexenmeisters

Titel: 091 - Die Braut des Hexenmeisters
Autoren: John Willow
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entrückt da. Sie reagierten weder auf das Licht noch auf diese schreckliche Stimme.
    Nun begriff Manon auch, warum das so war. Denn sie empfing diese Stimme nicht mit ihren Sinnen. Sie hörte sie nur in ihrem Kopf.
    Als der Geist vor ihr materialisierte, überschritt Manon die Schwelle des irdischen Seins. Plötzlich konnte sie sich ganz frei und fast mühelos bewegen. Sie wußte nicht, daß es nur ihr Astralleib war, der sich bewegte.
    Der glühende Schädel wuchs aus dem Tisch empor – ein ganzes Skelett. Eine flirrende Masse umgab die Gebeine, in grünen Flammen brennendes Fleisch, das langsam erlosch. Dann stand ein Mann vor ihr, den Manon Regnard ungläubig anstarrte.
    Sie kannte diesen Mann. Sie hatte ihn heute nachmittag gesehen, wenn auch ohne Kopf. Es war der Ritter auf dem Porträt über dem Kamin, dessen Gesicht man mit einem glühenden Schürhaken herausgebrannt hatte. Und sie kannte dieses Gesicht.
    Es waren die Züge ihres geliebten Jean Dougnac – wenn auch etwas älter und reifer.
    „Jean“, sagte sie.
    „Manon“, erwiderte der Mann vor ihr mit einer tiefen Stimme, die gar nicht zu Jean paßte. Jetzt wußte sie, daß sie nicht Jean selbst vor sich hatte.
    Verwirrt blickte sie sich um. Der Tisch, die Tischrunde, der Meister – alle waren verschwunden. Die beiden befanden sich allein in dem Turmzimmer, das sich völlig verändert hatte. Es war kleiner geworden, viereckig, aber nicht niedriger. Den Sternenhimmel draußen erhellte jetzt ein rötlicher Schimmer. In der Luft lag ein Geruch nach verbranntem Fleisch.
    „Wo bin ich?“ fragte Manon verwirrt.
    „In Paris. Es ist Nacht – eine ganz besondere Nacht.“ Er blickte sie mit merkwürdig flackernden Augen an, zwirbelte den Spitzbart über der steifen spanischen Halskrause, die aus dem schwarzen Brustpanzer herausquoll. „Heute ist die Bartholomäusnacht.“
    „Mein Gott“, sagte Manon erschrocken, „das liegt vierhundert Jahre zurück! Ich kann es nicht glauben.“
    Er lächelte – ein trauriges, bitteres Lächeln. Er gab ihr die Hand. „Komm, ich werde es dir zeigen – das Paris der Bartholomäusnacht.“
    Sie ergriff willenlos seine Fingerspitzen, die in einem Lederhandschuh steckten. Er führte sie hinaus auf einen hölzernen Balkon, der um den Turm herumlief. „Schau selbst“, sagte er und deutete nach unten.
    „Mein Gott!“ rief Manon, und ihr Atem stockte.
    Es war tatsächlich Paris, das da unter ihr lag, aber ein ganz anderes, viel kleineres Paris, als sie es von diesem Nachmittag her in Erinnerung hatte. Eine mittelalterliche Stadt fast noch, mit Mauern, Brüstungen, Wehrgängen und Stadttoren.
    Doch dieses vollkommen veränderte Bild war es nicht, was sie erschreckte. Es war das Getümmel und das grauenhafte Gemetzel, das sich dort unten, tief zu ihren Füßen, abspielte.
    „Mein Gott!“ sagte sie noch einmal fassungslos.
    Hier und dort brannten Häuser und tauchten die Stadt in ein düsteres rotes Licht. Durch die Gassen wälzte sich der Mob von Paris mit Fackeln, Spießen und Schwertern. Sie machten Jagd auf Edelleute, die sich zur Hochzeit des jungen Königs prächtig herausgeputzt hatten. Sie hörte deutlich die Schreie der Menge, sah, wie man die hugenottischen Adeligen in Stücke hackte, den Kopf abschnitt und auf Hellebarden triumphierend durch die Gassen trug. Sie wurde Zeuge der berüchtigten Bluthochzeit von Paris, als Katharina von Medici und der Herzog von Guise bei der Vermählung von Heinrich IV. mit Margarete von Valois alle zur Hochzeit geladenen Hugenotten umbringen ließen.
    Als Manon sich schaudernd abwandte, sah sie einen Trupp Bewaffneter mit langen Spießen den Berg heraufkommen. Sie hielten vor dem Graben an, während die Zugbrücke rasselnd herabgelassen wurde.
    „Was wollen diese Leute?“ fragte Manon voller Angst.
    „Sie kommen, um mich hinzurichten“, erwiderte der Mann neben ihr.
    Manon fuhr zusammen. Tiefer Schmerz und grenzenlose Verzweiflung lagen in dem Ton, mit der dieser Mann diese Worte aussprach. Sie wußte nicht, daß er sein ganzes Leid ihrem Geist mitteilen konnte. Sie litt mit ihm. Eine unerklärliche Zuneigung zu diesem Fremden aus einer anderen Zeit erfaßte sie. Sie blickte sich hastig um. Ein paar rohe Bänke und ein Tisch standen in dem Turmzimmer. Ein Schlüssel steckte in dem großen, eisernen Türschloß. „Vielleicht ist irgendwo ein Seil, mit dem du dich vom Balkon herunterlassen kannst“, rief sie. „Ich halte sie inzwischen auf, versperre die Tür von innen und
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