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091 - Die Braut des Hexenmeisters

091 - Die Braut des Hexenmeisters

Titel: 091 - Die Braut des Hexenmeisters
Autoren: John Willow
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vorwurfsvoll. „Sie können ruhig die Augen öffnen, mein Kind. Es ist niemand hier.“
    Manon zwang sich dazu, auf das Schlimmste gefaßt. Doch in der Bibliothek war niemand. Auch sah der Raum jetzt etwas anders aus als in ihrem „Traum“. Alle Wände waren jetzt mit Regalen vollgestellt, und sie konnte auch kein Sofa in dem Raum entdecken. Aber vor der Balkontür stand der gleiche Lehnstuhl. Nur sah er viel älter und fadenscheiniger aus. Der Lehnstuhl war leer.
    „Ein Erinnerungsstück an einen früheren Bewohner dieses Hauses, ehe es im letzten Jahrhundert umgebaut wurde“, sagte Madame Robin feierlich. „Monsieur Jean Dougnac war Arzt und ein Freund Robespierres. Dort steht sein Lieblingsstuhl.“
    „Ich sah ihn vorhin noch in dem Stuhl sitzen“, erwiderte Manon.
    „Es war dir, als würde er noch in diesem Stuhl sitzen“, verbesserte Madame Robin und lachte nervös. „Aber er wurde heute vor genau hundertachtzig Jahren von Robespierre hingerichtet, weil er gegen sein ausdrückliches Verbot heimlich eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen aus hochadeligen Kreisen angeknüpft hatte. Er ließ den Geköpften hier in den Lehnstuhl setzen, als würde er noch leben, und das Mädchen verhaften, als es nachts heimlich ihren Geliebten besuchen wollte.“
    „Ich sah ihn eben noch“, wiederholte Manon verstört.
    Die alte Dame lachte wieder. „Du hast das zweite Gesicht, mein Kind. Eine seltene Gabe – Fluch und Gnade zugleich. Denn diese Begnadeten können Ereignisse vor sich sehen, die sich lange vor ihrer Geburt zugetragen haben.“ Madame Robin rieb sich die Hände und blickte Manon lächelnd an. „Yvette hatte dich hierhergeschickt, weil du eine Stellung mit Logis im Hause suchst. Du bist engagiert – als meine Sekretärin. Wenn du willst, zeige ich dir gleich dein Zimmer.“
    Madame Robin eilte den Flur entlang und winkte Manon aufmunternd zu, die ihr folgte wie eine Schlafwandlerin. Seit sie vor ein paar Stunden ohne Wissen ihrer Eltern nach Paris gekommen war, schien sich ihr ganzes Leben auf merkwürdige Weise zu verändern.
    Sie dachte an Jean. Ihr Jean Dougnac lebte hier in Paris. Sie liebte doch kein Gespenst, das vor hundertachtzig Jahren geköpft worden war.
    Aber dieser Mann, den sie vorhin im Lehnstuhl umarmt hatte, war ihr Jean Dougnac gewesen, hatte mit seiner Stimme zu ihr gesprochen und sie vor einer Gefahr gewarnt. Er studierte Medizin und wollte Arzt werden wie jener Jean Dougnac, der in diesem Haus gewohnt hatte.
    Jean war in einer tödlichen Gefahr, das spürte Manon jetzt ganz deutlich.
    Madame Robin öffnete eine Zimmertür am Ende des Flurs. „Ich hoffe, es wird Ihnen bei mir gefallen“, sagte sie lächelnd. „Ich mache uns nur rasch etwas zu essen. Anschließend fahren wir hinaus zum Mont Valerien – zu einer Seance. Der Meister wird sich freuen.“
    Madame Robin schloß die Tür hinter sich und ließ Manon allein.
     

     
    Das Zimmer war im Gegensatz zu den anderen Räumen, die sie bisher gesehen hatte, modern eingerichtet. Ein heller Kleiderschrank, ein modernes französisches Bett und eine hübsche Frisierkommode. Ein Erker und ein kleiner Balkon gingen auf den Garten hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, und im Westen über den Hügeln hinter St.Cloud vergoldete die untergehende Sonne den Himmel.
    Der Abendverkehr auf den Boulevards drang wie eine ferne Brandung an ihr Ohr. Dort unten hatte sie vorhin noch eine blutgierige Meute gesehen, die ihr mit den Fäusten gedroht hatte.
    Und einen Taxifahrer auf einem Henkerskarren der Französischen Revolution.
    Sie schüttelte den Kopf. Auf der Straße spielten ein paar Kinder, und im Nachbargarten mähte ein behäbiger alter Herr den Rasen mit einer Mähmaschine. Sie lebte im 20. Jahrhundert. Da gab es keine Gespenster und „zweiten Gesichter“. Sie mußte das alles vorhin nur geträumt haben.
    Und doch stand nur ein paar Zimmer weiter ein Lehnstuhl, das schaurige Andenken an einen guillotinierten Arzt aus dem achtzehnten Jahrhundert, der den gleichen Namen getragen hatte wie ihr geliebter Jean.
    Manon trat fröstelnd vom Fenster zurück. Auf ihrem Nachttisch stand ein Telefon. Schon hatte sie den Hörer abgenommen und wollte die Nummer des Instituts anrufen, in dem Jean arbeitete.
    Aber dafür war es jetzt zu spät. Dort würde sie ihn um diese Zeit nicht erreichen.
    Sie legte den Hörer auf die Gabel zurück und setzte sich vor den Frisierspiegel.
    Ein zartes, ovales Gesicht mit großen blauen Augen blickte sie ernst an.
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