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0574 - Der chinesische Tod

0574 - Der chinesische Tod

Titel: 0574 - Der chinesische Tod
Autoren: Jason Dark
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offen, mehr im Untergrund, im Geheimen, aber sie brachen wieder hervor und bewiesen, wie grausam sie sein konnten, wenn ihnen jemand nicht mehr gehorchte.
    »Was soll ich tun, Tiau?«
    »Es wird keinen Sinn mehr haben, wenn du versuchst, die Götter um Vergebung zu bitten. Deine Tochter hat sich gegen die Regeln gestellt. Du als ihre Mutter hättest auf sie achtgeben müssen…«
    »Aber Osa ist erwachsen gewesen und kein Kind mehr.«
    »Dennoch. Bis zu deinem Tod bist du für sie verantwortlich. Hast du alles vergessen?«
    »Nein.« Sie richtete sich auf und preßte die Hände gegen die Wangen. »Das habe ich nicht.«
    »Dann wirst du jetzt sehr allein sein, Man Lei. Sehr allein. Ich wüßte keinen, der dir noch helfen könnte.«
    »Du auch nicht, Tiau?« Sie schaute bei der Frage in das faltenreiche Gesicht des Alten, dessen Mundwinkel zuckten, als er die Lippen in die Breite zog.
    Wortlos wandte er sich ab.
    Man Lei drehte sich zur anderen Seite hin. Sie stützte sich an der Wand ab, als sie auf die Füße kam. Kaum stand sie, da ließ der Schwindel Übelkeit in ihr hochsteigen, der allerdings schnell verging, als sie die Nachtluft einatmete.
    Das Fenster stand offen. Das wiederum erinnerte sie daran, wo ihre Tochter in den Tod gegangen war.
    Tiau blieb an der Tür wie ein unheimlicher Wächter stehen, als Man Lei zum Fenster ging. Er griff nicht ein, beobachtete den Rücken der Frau aus mit glitzernden Augen, als sie sich nach vorn beugte, um nach unten zu schauen.
    Er sagte nichts, auch Man Lei brachte kein Wort über die Lippen.
    Sie senkte den Kopf noch tiefer, aber da war nichts mehr – oder?
    Sie verfolgte den Strick, der in der Schlinge mündete.
    Hing sie in dieser Schlinge?
    Alles verschwamm vor den Augen der Frau. Sie sah überhaupt nichts mehr, drückte sich wieder zurück und drehte sich auf der Stelle. Ihr Blick fiel auf Tiau.
    Er stand auf dem Fleck, ohne sich zu rühren. Nur in seinen schmalen Augen glitzerte es. Sie spürte die Aura, die dieser Mann abstrahlte. Obwohl sie ihn schon lange kannte, war ihr nie so bewußt geworden, wie fremd er ihr tatsächlich war.
    Als Nachbar hatte sie ihn bisher gesehen, nicht als Freund, auch nicht als Feind, wie jetzt.
    Er deutete eine Verbeugung an, bevor er sie ansprach. »Nun, was hast du erreicht?«
    »Nichts«, flüsterte sie, »gar nichts.«
    »Wieso?«
    Man Leis rechte Hand fuhr hastig über die Knopfleiste des dunkelblauen, einfach geschnittenen Kleids. »Es ist schon gut, es ist alles gut, meine ich.«
    »Darf ich dir einen Rat geben?«
    »Bitte.«
    »Geh nach unten, nimm den toten Körper deiner Tochter aus der Schlinge und schaff ihn weg.«
    »Was soll ich?« Man Leis Augen weiteten sich. »Ich soll ihn wegschaffen? Einfach so?«
    »Ja.«
    »Das geht nicht. Wir müssen die Polizei verständigen, Tiau.«
    »Tatsächlich? Hast du dich schon derart weit von uns entfernt, daß dein Denken leidet?«
    »Nein, aber…«
    »Haben wir unsere Probleme nicht stets auch unter uns geregelt? Haben wir das nicht?« Bei den letzten Worten gewann seine Stimme an Schärfe. Er stand im dünnen Flurlicht und wirkte schmal wie ein Schatten, dennoch sehr gefährlich.
    »Das war früher so.«
    »Es ist heute noch geblieben, Man Lei. Daran solltest du immer denken. Wir werden keine Polizei einschalten. Wir regeln es unter uns. Die Polizei würde nichts verstehen, rein gar nichts. Geh hinter das Haus und regle alles.«
    »Und dann?«
    »Bleib in der Wohnung. Warte hier. Die Götter müssen besänftigt werden, das weißt du.«
    »Wie denn?«
    »Durch dich, Man Lei. Zünde die Räucherstäbchen an. Versuch durch Gebete die Götter gnädig zu stimmen. Tu alles, meine Freundin, aber ich garantiere für nichts.«
    Mehr sagte Tiau nicht. Er drehte sich auf der Stelle um und tauchte in den Flur. Wie ein durchscheinendes Gespenst schritt er in den fahlen Lichtschein hinein. Er verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Man Lei blieb zurück. Sie starrte ins Leere, war trotzdem sehr nachdenklich und ließ sich die Worte des Alten durch den Kopf gehen. Ihr fiel auf, welch eine undurchsichtige Figur er eigentlich war.
    Stand er tatsächlich auf ihrer Seite, oder diente er einzig und allein den schrecklichen Göttern?
    Man Lei wußte es nicht. Sie hob nur die Schultern und fragte sich, ob sie alles richtig machte, wenn sie so handelte, wie Tiau es wollte.
    In diesem Haus hatten sich sie und ihre Tochter eigentlich immer wohl gefühlt. Nun aber kam es ihr vor, als wäre sie nur von lauter
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