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0574 - Der chinesische Tod

0574 - Der chinesische Tod

Titel: 0574 - Der chinesische Tod
Autoren: Jason Dark
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Treppenhaus. Als Echo glitten sie noch an den Wohnungstüren entlang, hinter denen sich die Bewohner still verhielten. Aus Angst und auch aus Erleichterung darüber, daß es sie nicht erwischt hatte.
    Man Lei aber blieb allein zurück. Sie war völlig weggetreten und merkte nicht, daß im Treppenflur eine Tür geöffnet wurde und ein alter Mann seine Wohnung verließ.
    Auf seinem Kopf wuchs kein einziges Haar. Dafür besaß er einen geflochtenen Bart, der die Oberlippe bedeckte, um anschließend bleistiftdünn an den Seiten seiner Mundwinkel nach unten zu wachsen. Der alte Mann besaß ein verkniffen wirkendes Gesicht. Seine Augen waren auch für die eines Chinesen ungewöhnlich schmal. Bei ihm fielen auch die großen Ohren auf. Er trug ein kimonoähnliches Gewand, dessen Stoff senfgelb schimmerte und sogar in der Dunkelheit zu sehen war.
    Mit langsamen, dennoch zielsicheren Schritten durchquerte er den Flur und betrat das Zimmer.
    Er schaute auf das geöffnete Fenster. Man Lei interessierte ihn noch nicht. Erst nach einer Weile drehte er sich um und ging zu der ohnmächtigen Frau.
    Neben ihr kniete er nieder. Seine langen, dünnen Finger streichelten ihre Wangen. Davon wachte Man Lei auf.
    Zuerst wußte sie nichts. Sie sah über sich ein Gesicht und glaubte gegen den Mond zu schauen.
    »Du bist wieder wach?«
    Die Stimme! Man Lei überlegte, wo sie die schon einmal vernommen hatte. Keiner der beiden Namenlosen hatte so gesprochen, es mußte ein Bekannter sein.
    »Man Lei!«
    »Ja, ja…« Sie hauchte die beiden Worte, bevor sie es schaffte, den Kopf zu heben. Darunter spürte sie eine Hand, der alte Mann stützte sie ab.
    »Hörst du mich?«
    »Du – Tiau?«
    »Ja, ich bin es.«
    »Was ist… was ist … geschehen?« Sie bewegte unruhig die Hände, schabte mit den Innenflächen über den Boden. »Sag mir, was geschehen ist, Tiau?«
    »Das müßtest du am besten wissen.«
    »Ich kann mich nicht daran erinnern. Wirklich nicht. Es ist alles anders geworden.«
    »Denk an deine Tochter.«
    Das war das Stichwort. Plötzlich erinnerte sich die Frau. Auf ihrem Gesicht malte sich der Schrecken ab. Sie faßte mit einer Hand nach dem Arm des Alten. Die Erinnerung war furchtbar, sie mußte sich einfach abreagieren und starrte in das von Falten und Runzeln gezeichnete Gesicht mit den dunklen Schlitzaugen.
    »Tot!« ächzte sie, »Osa ist tot…«
    »Das weiß ich.«
    »Sie… sie stand am Fenster, einen Strick um den Hals. Sie hat sich das junge Leben genommen.«
    »Deine Tochter ist unwürdig gestorben, Man Lei.«
    »Wie… wie meinst du das?«
    »Sie hätte sich nicht das Leben nehmen sollen. Sie hat über uns das große Unglück gebracht. Ich weiß es, Man Lei. Sie hätte es nicht tun dürfen. Jetzt werden wir dafür büßen müssen. Du an erster Stelle, denn du hättest soviel Einfluß haben müssen, um sie zurückzuhalten. Es tut mit leid für dich und für uns, Man Lei.«
    »Was redest du denn da? Hätte sie mitgehen sollen, um sich verbrennen zu lassen?«
    »Es wäre unseren Regeln entsprechend gewesen!«
    »Ja, ich weiß!« stieß sie hervor. »Den alten Regeln, aber nicht Osas Regeln. Sie ist anders gewesen. Sie ist in einer anderen Welt aufgewachsen. Sie hat studiert…«
    »Weißt du nicht, daß die Tradition stärker ist und sich niemand gegen sie stellen darf?«
    »Das hat Osa nie interessiert.«
    »Deshalb werden wir der Strafe nicht entgehen. Wer ausbricht, ist verloren.«
    Man Lei hatte die Worte gehört. Vor einigen Jahren noch hätte sie Tiau zugestimmt, heute nicht mehr. Durch ihre Tochter, die an der Uni Informatik studierte und als Hochbegabte sogar ein Stipendium erhalten hatte, war sie mit einem anderen Lebenskreis bekannt gemacht worden. Hier galten die alten Regeln nicht mehr. Zöpfe wurden abgeschnitten. Götter, Dämonen, nein, daran hatte Osa nie glauben wollen und so überzeugend gesprochen, daß sie Man Lei hatte auf ihre Seite ziehen können.
    Das war auch von den übrigen Hausbewohnern bemerkt worden.
    Erst hatte man die Mutter nur wie nebenbei angesprochen und auf ihre Erziehungsaufgaben hingewiesen. Aber konnte eine dreiundzwanzigjährige moderne Frau tatsächlich noch erzogen werden?
    Sie glaubte nicht daran. Wenn sie es versucht hatte, war sie von Osa ausgelacht und gleichzeitig in den Arm genommen worden.
    »Die alten Zeiten sind vorbei, Mutter. Die Zöpfe sind abgeschnitten worden. Daran mußt du dich gewöhnen.«
    Nein, sie waren nicht vorbei. Sie waren nach wie vor vorhanden.
    Nur nicht so
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