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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV
Autoren: Karl May
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unserer Kanzel erschien gerade jetzt der ‚Junge Adler‘, um irgendeine Frage an mich zu richten. Ich ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern sagte:
    „Die Häuptlinge sollen sofort ihre Medizinen erhalten. Wie lange dauert es, bist du sie bringen kannst?“
    „Mit dem Vogel?“ fragte er.
    „Wenn es möglich ist, ja.“
    „Eine halbe Stunde.“
    „Das ist mir recht. Es wird dann, gerade so wie gestern, dämmern. Das ist die rechte Zeit. Bitte, geh sogleich!“
    Als ich mit Pida drüben ankam, stand seine Frau mit ihrer Schwester an der Kanzel. Wir stiegen hinauf. Pida setzte sich zu den Häuptlingen nieder, ich aber blieb stehen. Tangua ergriff das Wort. Er sagte, daß er gern aufstehen möchte, um zu mir zu sprechen, leider aber könne er sich nicht erheben. Ich ließ ihn nicht weiterreden, sondern fiel ihm in das Wort. Ich sagte, wenn hier um Verzeihung gebeten werden solle, so sei gewiß nicht der Indianer, sondern das Bleichgesicht zuerst und zumeist hierzu verpflichtet, und dieses Bleichgesicht sei ich. Hierauf griff ich in die Vergangenheit und erzählte, wie das Bleichgesicht über das Meer gekommen sei, um seinem ‚roten Bruder‘ alle seine ‚Medizinen‘ zu rauben. Ich ging hierauf der Geschichte nach. Ich übertrieb nichts und bemäntelte nichts. Ich erzählte die Wahrheit, nackt und ungeschminkt, wie sie wirklich, wirklich war. Ich sprach von den Fehlern der roten Rasse, von ihren Tugenden, von ihren Leiden, vor allen Dingen von ihrer bisherigen Zukunftslosigkeit. Das alles habe man vornehmlich dem Bleichgesicht zu verdanken. Aber dieses Bleichgesicht sei zur besseren Erkenntnis gekommen. Es wünsche, daß sein roter Bruder leben bleibe und zum Volke werde, wie es ihm von Anfang an beschieden sei. Dieses Bleichgesicht sei bereit, alle seine Irrtümer einzugestehen und wiedergutzumachen. Es fühle vor allen Dingen, daß es verpflichtet sei, sein Herz und sein Gewissen zu reinigen, indem es seine roten Brüder um Verzeihung bitte.
    Indem ich dies sagte, trat ich zu ihnen hin und streckte meine Hände aus, sie ihnen zur Abbitte zu reichen. Einige Augenblicke lang waren alle still; dann aber wurden mir alle Hände entgegengereicht , und alle Stämme versicherten mir, daß sie ebenso gesündigt und ebenso um Verzeihung zu bitten hätten wie ich, das Bleichgesicht.
    „Einander verzeihen! Ihr uns und wir euch!“ rief Tangua. „Und dann einander helfen! Ich habe dich gehaßt, nun aber werde ich dich lieben! Wenn ich sterbe, soll Friede sein über meinem Grabe! Sind wir noch eure Gefangenen?“
    „Nein!“ erklang die Stimme Tatellah-Satahs.
    „Uff!“ rief Kiktahan Schonka. „Wer spricht da?“
    „Der ‚Bewahrer der großen Medizin‘.“
    „Wo?“
    „Drüben auf der anderen Teufelskanzel.“
    „So sind wir hier auch auf einer Kanzel?“
    „Ja. Ich belauschte euch auf der nördlichen Teufelskanzel, die man Tscha Manitou, das Ohr Gottes, nennt. Dort hört der gute Mensch, was die bösen Menschen sagen, und kann sich darum retten. Und nun belauschten wir euch hier auf der südlichen Teufelskanzel, die man Tscha Kehtikeh, nennt. Da hören die bösen Menschen, was die guten sagen, und sehen sich dann gerettet. Der Häuptling Tangua hat gefragt, ob ihr noch gefangen seid. Er mag weiter fragen!“
    Das ließ er sich nicht zweimal sagen, sondern tat es sofort:
    „Kommen wir an den Marterpfahl?“
    „Nein“, antwortete Tatellah-Satah von drüben herüber.
    „Wir müssen also nicht sterben?“
    „Nein.“
    „Wir behalten unsere Waffen und unsere Pferde?“
    „Ja.“
    „Dürfen hier bleiben und ‚Winnetous‘ werden?“
    „Ja.“
    „Sind alle eure Häuptlinge einverstanden?“
    „Alle, alle, alle, alle!“ ertönten so viele Stimmen, wie Häuptlinge sich jetzt bei Tatellah-Satah befanden.
    „Und was wird mit unseren Medizinen?“
    „Schau zum Himmel auf! – Wen siehst du da?“
    Es dämmerte jetzt so, daß der Ingenieur den Apparat schloß. Winnetou verschwand vom Schleierfall. Dafür aber erschien hoch oben der ‚Junge Adler‘, ließ sich tiefer und tiefer herab, flog dreimal um den Platz und landete dann so, daß er genau vor der Kanzel den Boden berührte. Da stieg er aus, kam herauf und sprach:
    „Old Shatterhand gibt euch durch mich eure Medizinen zurück . Ihr seid also frei!“
    Wie hastig sie Zugriffen, um sie sich umzuhängen! Sie jubelten laut, und dieser ihr Jubel verbreitete sich weiter und weiter. Dazwischen hinein aber rief Tatellah-Satah zu ihnen herüber:
    „Ihr
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