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01 - Gott schütze dieses Haus

01 - Gott schütze dieses Haus

Titel: 01 - Gott schütze dieses Haus
Autoren: Elizabeth George
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mir weit wichtiger als alles andere. Ich sagte Ihnen nichts davon, weil ich nicht riskieren wollte, daß Sie es ihr bei nächster Gelegenheit vorhalten würden.« Er versuchte, seine Worte ein wenig abzuschwächen. »Im übrigen war es eine Information, die der ärztlichen Schweigepflicht unterlag.«
    »Was wird aus den beiden werden?« fragte Lynley.
    »Sie werden es überleben.«
    »Wie können Sie das wissen?«
    »Sie fangen an zu begreifen, daß sie seine Opfer waren. Das ist der erste Schritt.«
    Samuels nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit dem Futter seines Jacketts. Sein schmales Gesicht wirkte müde. Er kannte das alles.
    »Mir ist unverständlich, wie sie so lange überlebt haben.« »Sie richteten sich ein.«
    »Wie denn?«
    Samuels warf einen letzten prüfenden Blick auf die Brillengläser und setzte die Brille wieder auf. Er rückte sie sorgsam zurecht. Er trug die Brille seit Jahren, und zu beiden Seiten seiner Nase waren Einkerbungen vom ständigen Druck.
    »Gillian scheint sich in die Dissoziation gerettet zu haben, ein Mittel, das Selbst aufzuspalten, so daß sie so tun konnte, als hätte oder wäre sie das, was sie in Wirklichkeit nicht haben oder sein konnte.«
    »Zum Beispiel?«
    »Normale Gefühle. Normale mitmenschliche Beziehungen. Sie sprach davon, ein Spiegel gewesen zu sein, der nur das Verhalten derer um sie herum wiedergab. Es ist ein Abwehrmechanismus. Er schützte sie davor zu fühlen, was in Wirklichkeit mit ihr geschah.«
    »Wie denn?«
    »Sie war ›nicht da‹. Darum konnte nichts, was ihr Vater tat, sie berühren oder vertiefen. Sie war, wie sie sagte, nur eine Hülle.«
    »Jeder im Dorf beschrieb sie mir anders.«
    »Genau. Das ist das Verhalten. Gillian spiegelte die Leute nur. In letzter Konsequenz endet das in einer völlig gespaltenen Persönlichkeit, aber dazu kam es bei ihr nicht, was an sich schon bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, was sie durchgemacht hat.«
    »Und Roberta?«
    Samuels runzelte die Stirn.
    »Sie hatte leider keine so guten Abwehrmechanismen wie Gillian«, antwortete er.
    Lynley warf einen letzten Blick aus dem Fenster und kehrte zu seinem Sessel zurück.
    »Hat sie deshalb gegessen?« »Als Fluchtmöglichkeit? Nein, das glaube ich nicht. Ich würde sagen, es war mehr ein selbstzerstörerischer Akt.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Das mißbrauchte Kind lebt in dem Gefühl, etwas Böses getan zu haben, wofür es bestraft wird. Es kann gut sein, daß Roberta gegessen hat, weil das Mißbrauchtwerden dazu führte, daß sie sich - ihre ›Schlechtigkeit‹ - haßte. Mit dem Essen wollte sie den bösen Körper zerstören. Das wäre eine Erklärung.«
    Samuels zögerte.
    »Und die andere?«
    »Schwer zu sagen. Es wäre möglich, daß sie versuchte, den Mißbrauch zu verhindern, indem sie ihren Körper zerstörte. Es war vielleicht das einzige Mittel, das sie wußte, um ihren Vater fernzuhalten: indem sie versuchte, so wenig wie möglich wie Gilly zu sein.«
    »Aber es half nichts.«
    »Unglücklicherweise, nein. Er dachte sich lediglich neue Perversionen aus, um sich in Erregung zu bringen, und bediente sich ihrer dazu. Das dürfte auch seinem Bedürfnis, Macht auszuüben, entsprochen haben.«
    »Ich könnte diesen Teys umbringen«, sagte Lynley.
    »So geht es mir dauernd«, erwiderte Samuels.
    »Wie kann ein Mensch nur - ich versteh' das nicht.«
    »Es ist ein abartiges Verhalten, eine Krankheit. Teys konnten nur kleine Mädchen erregen. Seine Heirat mit einer Vierzehnjährigen - nicht etwa einer gut entwickelten, fraulichen Vierzehnjährigen, sondern einer sich spät entwickelnden - hätte jeden, der einen Blick für so etwas hat, aufmerksam machen müssen. Aber er konnte seine abartigen Neigungen erfolgreich hinter seiner scheinbaren Frömmigkeit und der Maske des starken, liebevollen Vaters verbergen. Das ist so typisch, Inspektor Lynley. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie typisch es ist.«
    »Und keiner hat je etwas davon gemerkt? Das kann ich nicht glauben.«
    »Wenn Sie sich die Situation vor Augen halten, ist es leicht zu glauben. Teys hatte in der Gemeinde den Ruf eines grundanständigen und soliden Mannes. Seinen Töchtern impfte er Schuldgefühle ein und die Überzeugung, schlecht und minderwertig zu sein. Gillian glaubte fest, sie wäre schuld daran, daß ihre Mutter ihren Vater verlassen hatte, und leistete damit Wiedergutmachung, daß sie ihrem Vater ›eine Mama‹ war, um Teys' Worte zu gebrauchen. Roberta glaubte, Gillian hätte
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