Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
01 - Gott schütze dieses Haus

01 - Gott schütze dieses Haus

Titel: 01 - Gott schütze dieses Haus
Autoren: Elizabeth George
Vom Netzwerk:
zusammennehmen, aber die Übelkeit blieb, und sie wußte, sie würde auch diese Erniedrigung noch ertragen müssen, daß sie vor der eleganten Helen Clyde über der Kloschüssel hing und sich übergab.
    Wasser rauschte. Wieder Schritte. Die Tür der Kabine wurde geöffnet. Jemand drückte ihr ein feuchtes Tuch in den Nacken, faltete es rasch und tupfte ihr damit die brennenden Wangen ab.
    »Bitte! Nein! Gehen Sie!« Sie mußte sich wieder übergeben und fing auch noch zu weinen an. »Ich kann nicht«, schluchzte sie. »Ich kann nicht. Bitte, bitte, lassen Sie mich allein.«
    Eine kühle Hand schob ihr das Haar aus dem Gesicht und hielt ihre Stirn.
    »Das Leben ist beschissen, Barb. Und das Schlimme ist, es wird auch nicht besser«, sagte Lynley.
    Sie fuhr entsetzt herum. Aber es war wirklich Lynley, und in seinen Augen war das teilnahmsvolle Verständnis, das sie schon früher in ihnen gesehen hatte: bei ihrem Besuch bei Roberta, bei seinem Gespräch mit Bridie, bei dem Gespräch mit Tessa. Plötzlich wußte sie, was Webberly gemeint hatte, als er gesagt hatte, sie könne viel von Lynley lernen; er hatte um diese Quelle innerer Kraft gewußt, deren Ursprung, wie sie jetzt erkannte, ein großer persönlicher Mut war. Es war dieses ruhige Verständnis, nichts anderes, das schließlich den Zusammenbruch herbeiführte.
    »Wie konnte er nur?« schluchzte sie. »Man liebt doch sein Kind, man tut ihm doch nicht weh. Man läßt es doch nicht einfach sterben. Nie, nie läßt man es sterben. Aber das haben sie getan.«
    Ihre Stimme hatte jetzt einen hysterischen Klang, während die ganze Zeit Lynleys ruhiger Blick auf ihrem Gesicht lag.
    »Ich hasse ... ich kann nicht ... Sie hätten doch für ihn dasein müssen. Er war doch ihr Sohn. Sie behaupteten, ihn zu lieben, und taten es gar nicht. Er war vier Jahre lang krank, lag das ganze letzte Jahr im Krankenhaus. Sie haben ihn nicht einmal besucht. Sie sagten, sie könnten es nicht ertragen, es täte ihnen zu weh. Aber ich hab' ihn besucht. Ich war jeden Tag dort. Und er fragte immer nach ihnen. Er fragte, warum Mama und Daddy nicht kämen. Und ich log. Ich war jeden Tag dort und habe gelogen. Und als er starb, war er ganz allein. Ich war in der Schule. Ich bin nicht mehr rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen. Er war mein kleiner Bruder. Er war erst zehn Jahre alt. Und wir alle - wir alle - haben ihn allein sterben lassen.«
    »Es tut mir so leid«, sagte Lynley behutsam.
    »Ich schwor mir, daß ich sie niemals vergessen lassen würde, was sie getan hatten. Ich holte alle seine Schulzeugnisse. Ich rahmte den Totenschein. Ich errichtete einen Gedenkschrein. Ich sperrte sie im Haus ein. Ich schloß die Türen und die Fenster. Und jeden einzelnen Tag sorgte ich dafür, daß sie da sitzen und Tony anstarren mußten. Ich machte sie wahnsinnig! Ich wollte es. Ich habe sie zerstört. Ich habe mich selbst zerstört.«
    Sie legte ihren Kopf auf das Porzellan und weinte. Sie weinte über den Haß, der ihr Leben ausgefüllt hatte, über die Schuld und die Eifersucht, die ihre Gefährten gewesen waren, über die Einsamkeit, die sie selbst über sich gebracht hatte, über die Verachtung und die Feindseligkeit, die sie anderen entgegengebracht hatte.
    Am Ende, als Lynley sie wortlos in die Arme nahm, weinte sie an seiner Brust, trauerte auch um die Freundschaft, die zwischen ihnen hätte sein können.

    Durch die Sprossenfenster in Dr. Samuels' Büro konnten sie den Rosengarten sehen. Er war terrassenförmig angelegt, und jede Rosenart bildete eine Gruppe für sich. An einigen Büschen waren noch Blüten, obwohl es schon spät im Jahr war, die Nächte kalt waren und manchmal morgens schon Reif lag.
    Sie beobachteten die kleine Gruppe Menschen, die über die Kieswege zwischen den Rosenbüschen ging. Ein Bild der Gegensätze: Gillian und ihre Schwester, Helen und Barbara und weit hinter ihnen die zwei Pflegerinnen in langen Umhängen.
    Lynley wandte sich vom Fenster weg und sah, daß Samuels, der hinter seinem Schreibtisch saß, ihn nachdenklich beobachtete. Sein Gesicht verriet jedoch seine Gefühle nicht.
    »Sie wußten, daß sie ein Kind geboren hatte«, sagte Lynley. »Von der Untersuchung bei der Einweisung, vermute ich.«
    »Ja.«
    »Warum sagten Sie mir das nicht?«
    »Ich traute Ihnen nicht«, antwortete Samuels und fügte hinzu: »Damals jedenfalls nicht. Ich hoffte, es würde mir gelingen, durch mein Schweigen eine, wenn auch noch so feine Verbindung zu Roberta herzustellen. Und das war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher