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006 - Der lebende Leichnam

006 - Der lebende Leichnam

Titel: 006 - Der lebende Leichnam
Autoren: Peter Randa
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furchtbar mager.«
    Was sagen sie da? Ich habe doch noch nie Schmerzen gehabt. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran. Doch, ganz schwach, auf der Wendeltreppe im Flügel F. Und sie behaupten, es habe Monate gedauert. Verstehe ich nicht.
    Natürlich war ich unzählige Male bewusstlos, aber ich dachte, dass es jedes Mal nur ein paar Sekunden gedauert hätte, wie in einem Traum. Sie sprechen von Monaten. Das mag ja sein. Aber nicht die Qualen.
    Sieh an, ich denke nach. Sogar ganz ruhig. Es ist das erste Mal, dass ich das kann. Und es kommt mir auch vor, als sei die Wattehülle, in die ich mich geflüchtet habe, nun dünner geworden.
    Qualen! Eigentlich merkwürdig. Irgendwann wird es mir schon wieder einfallen. Jedes Mal, wenn ich wieder zu mir kam, hatte ich das Gefühl, ein anderer zu sein.
    Es kommt mir vor, als schwebe ich. Ein wenig so, als sei es mir gelungen, mich in meine Gedanken zurückzuziehen. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass ich mich niedergelassen habe.
    Also eine Spaltung der Persönlichkeit? Diesmal erzeugt die geistige Anstrengung, die ich unternehme, eine Art körperliches Empfinden, als hätte ich plötzlich einen schweren Kopf. Panik ergreift mich. Es kommt mir vor, als sei ich plötzlich eingeschlossen. Ein Gefangener.
    »Er bewegt sich immer mehr, Doktor.«
    Die Stimme klingt sanft und angenehm, aber sie ist weit von mir entfernt, kilometerweit. Natürlich könnte ich sie dann nicht hören … und doch …
     

     
    Maßlose Angst erfasst mich, und ich begehre plötzlich auf. Ein grässlicher Schmerz. Kälte. Ich friere und fühle mich unbehaglich. Diesmal ist alles rein körperlich. Ein grauenhaftes Gefühl der Leere.
    Und plötzlich kann ich sehen. Eine weiße Zimmerdecke. Sehr hoch über mir. Dann das besorgte Gesicht eines blonden jungen Mädchens in Schwesterntracht.
    Alles verwischt sich wieder, beginnt zu tanzen.
    Trotzdem gelingt es mir zu flüstern: »Wer sind Sie?«
    Nach der eisigen Kälte durchströmt ein intensives Wärmegefühl meinen Körper, und ich beginne zu schwitzen. Ein dumpfes Dröhnen erfüllt meine Ohren, und ich spüre überall Nadelstiche, Millionen von Nadelstichen, am ganzen Leib, der plötzlich wieder reagiert.
    Das gleiche Gefühl, wie wenn man schlecht gelegen hat und einem der Fuß eingeschlafen ist. Ameisen, aber im ganzen Körper, vom Hals bis zu den Zehen. Ich bewege mich heftig. Ich richte mich auf und strecke die Arme aus.
    Schon lässt das Kribbeln ein wenig nach. Das fürchterliche Dröhnen in meinen Ohren hört auf, und ich sehe, wie sich die Krankenschwester über mich beugt. In ihren Augen lese ich Entsetzen.
    Sie drückt wie verrückt auf einen Klingelknopf. Wahrscheinlich ruft sie jemanden herbei. Das Kribbeln wird immer schwächer. Ich habe mich aufgerichtet und sitze nun.
    »Du lieber Gott!«
    Ich lache laut auf. Ein ungeahntes Glücksgefühl erfüllt mich. So muss sich ein zum Tode Verurteilter fühlen, wenn man ihn von der Guillotine wegführt.
    »Bleiben Sie ruhig.«
    Natürlich, ich bin ja ruhig. Fröhlich, aber absolut ruhig. Mir gegenüber öffnet sich die Tür, und ich erblicke zwei stämmige Männer. Ihnen folgen ein kleiner Mann mit Spitzbart und eine ziemlich große Frau in einem schwarzen Kostüm.
    Meine Krankenschwester ruft ihnen zu: »Er ist zu sich gekommen und bewegt sich. Er spricht sogar.«
    Wieder lache ich, diesmal jedoch leiser, dann sage ich:
    »Ein komisches Gefühl, wiedergeboren zu werden. Ja, genau das ist das Gefühl, das ich gehabt habe.«
    Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Eine Bewegung, die mir sehr schwer fällt und mich erschöpft.
    »Ein bisschen schnell, das Ganze. Sekundenlang kam ich mir vor, als sei ich tot, und plötzlich lebe ich wieder.«
    Die Krankenschwester legt ihre Hand auf meine Schulter zum Zeichen, dass ich mich ausstrecken soll. Ich gehorche. Ich erinnere mich, dass sie glaubten, ich würde als Geistesgestörter wieder zu mir kommen. Deshalb die zwei starken Kerle.
    »Ich habe Hunger.«
    Der Spitzbart fühlt meinen Puls, und die beiden Männer stellen sich zu beiden Seiten meines Betts auf. Die Frau in dem Kostüm steht vor mir am Fußende des Betts. Ihr Gesichtsausdruck ist nicht gerade sehr freundlich. Man spürt, dass irgendetwas sie bedrückt.
    Schwarzes Haar und Brille. Ein energisches Kinn. Die Krankenschwester wischt mir die Stirn ab, und schließlich lässt der Spitzbart meinen Arm los.
    »Wie fühlen Sie sich?«
    »Gut.«
    Er wendet sich an die Frau:
    »Sie können stolz sein,
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