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006 - Der lebende Leichnam

006 - Der lebende Leichnam

Titel: 006 - Der lebende Leichnam
Autoren: Peter Randa
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Fenster vergittert sind. Die Krankenschwester kommt zu meinem Bett zurück.
    »Wie heißen Sie?«
    »Mireille.«
    »Ich freue mich, dass Sie da sind. Die andere gefällt mir nicht.«
    »Welche andere?«
    »Die mit dem Doktor gekommen ist.«
    »Das ist keine Krankenschwester. Das ist Frau Dr. Lomel. Vera Lomel. Ihr verdanken Sie, dass Sie noch leben, und vor allem, dass Sie kein Krüppel sind.«
    »So!«
    »Wissen Sie, was Ihnen passiert ist?«
    »Nein.«
    »Sie wurden durch radioaktive Strahlen verbrannt.«
    »Eine Atombombe?«
    »Beinahe. Ich habe nicht genügend technische Kenntnisse, um Ihnen das genauer zu erklären.«
    »Bin ich jetzt radioaktiv?«
    »Nein, nicht mehr.«
    »Das kann man also heilen?«
    »Der Beweis.«
    Während wir uns unterhalten, richtet sie mich auf und legt mir Kissen in den Rücken, um mich zu stützen.
    »Bin ich schon lange hier?«
    »Anderthalb Jahre.«
    »Was?«
    Ich sehe sie sprachlos an. Sie lächelt mich freundlich an.
    »Medizinisch gesehen ist Ihr Fall ein Wunder.«
    Anderthalb Jahre. Achtzehn Monate. Aber das, gibt es doch nicht. So lange kann man nicht im Koma liegen … bewusstlos. Natürlich, ich war mir schon gewisser Dinge bewusst, aber richtig bei Bewusstsein war ich nicht. Darunter versteht man ja etwas ganz anderes.
    »Bin ich während dieser achtzehn Monate einmal aufgewacht?«
    »Was nennen Sie aufwachen?«
    »Habe ich gesprochen? Geschrieen? Irgendetwas getan?«
    »Nichts. Sie waren am Leben, aber bewusstlos. Was wir bei Ihnen als Aufwachen beobachtet haben, waren Reaktionen Ihres Körpers. Weiter nichts.«
    »Wenn man mich quälte?«
    »Das musste sein.«
    »Man muss mich doch irgendwie ernährt haben.«
    »Ja, mit Spritzen.«
    »Wie wusste man, wann ich hungrig war?«
    »Immer wenn Sie Hunger hatten, bewegten Sie sich.«
    Ich glaube, ich fange an zu verstehen. Ich sehe Mireille erstaunt an.
    »Und das war alles?«
    »Ja.«
    Mir gegenüber öffnet sich die Tür. Ich mache mich darauf gefasst, den Spitzbart auftauchen zu sehen, aber es ist eine zweite Krankenschwester, kleiner als Mireille, die einen kleinen Rolltisch vor sich herschiebt.
    Nicht erschütternd, was man mir da bringt. Kartoffelbrei und Fleischlaibchen. Sie sind winzig und schmecken nach gar nichts. Wieder habe ich schreckliche Lust auf ein Stück blutiges Fleisch.
     

     

Anderthalb Jahre. Mireille hat meine Decke zurückgeschlagen, und ich kann meine Beine betasten. Sie sind entsetzlich mager. Wie mein ganzer Körper. Ich erkenne mich nicht wieder.
    »Kein Wunder bei den Hungerrationen, die man hier vorgesetzt bekommt.«
    »Der Doktor wird die Mengen nach und nach steigern. Ihr Magen muss sich erst wieder an feste Nahrung gewöhnen.«
    Über meine Hände laufen lange, streifenförmige Narben. Narben, die mir alt Vorkommen, die ich aber noch nie gesehen habe. Mireille muss mir die Wahrheit gesagt haben.
    Ich zweifle übrigens auch nicht daran. Behutsam legt sie wieder die Decke über mich.
     

     
    Merkwürdig. Ich habe das Gefühl, keinen Bissen gegessen zu haben. Trotzdem bin ich nicht mehr hungrig. Mireille hilft mir, mich auszustrecken.
    »Sie müssen jetzt schlafen.«
    »Ich bin nicht müde.«
    Sie zieht einen Sessel an das Fußende meines Bettes und setzt sich mir gegenüber.
    »Sie bringen alle Vorhersagen durcheinander.«
    »In welcher Hinsicht?«
    »In jeder Hinsicht.«
    »Was meinen körperlichen Zustand betrifft?«
    »Ja, aber auch den geistigen.«
    »Was glaubte man denn?«
    »Dass Ihr Hirn abgestorben sei. Dass Sie zwar das Experiment lebend überstehen, aber ohne Bewusstsein dahinvegetieren würden.«
    »Warum sagen Sie Experiment? Man hat mich doch behandelt, oder nicht?«
    »Die Behandlung, die Frau Dr. Lomel bei Ihnen angewandt hat, war etwas absolut Neues.«
    »Ich habe mehrere Male gehört, wie man sich in meiner Gegenwart unterhielt. Das war, bevor ich wieder zu mir kam.«
    »Worüber wurde gesprochen?«
    »Dass ich furchtbare Schmerzen ausgestanden haben muss.«
    »Und trifft das nicht zu?«
    »Nein. Ich habe nicht das Geringste gespürt.«
    Irgendwie scheint es mir, als sei ich mit einem viel schärferen Verstand wieder erwacht, als erinnerte ich mich plötzlich an alles, was ich je gelernt habe, und was man zwangsläufig im Lauf der Zeit vergisst.
    Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Aber mein Gedächtnis ist tatsächlich besser geworden, und ich verstehe auch alles besser. Ich kann klarer denken. Ich habe auf einmal Beziehung zu Dingen, die mir früher unverständlich
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