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006 - Der lebende Leichnam

006 - Der lebende Leichnam

Titel: 006 - Der lebende Leichnam
Autoren: Peter Randa
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ich mich in seine unmittelbare Nähe. Der Hunger quält mich. Mit einer intensiven Gedankenwelle lähme ich seinen Willen, dann packe ich ihn am Hals.
    Aus dem Wagen ertönt ein gellender Schrei. Er ist nicht allein. Eine Frau springt heraus und eilt ihm zu Hilfe. Ich bin verzweifelt, denn ich spüre, wie mich meine Kräfte verlassen.
    Hastig richte ich mich auf. Sie ist ziemlich klein und stürzt sich wild entschlossen auf mich. In der Ferne sehe ich einige Autos auftauchen. Das erste hat uns erreicht und bremst abrupt.
    Instinktiv umklammere ich die Frau und denke an den Baum, unter dem ich geschlafen habe. Sofort befinden wir uns dort, und ich versuche, sie zu beruhigen.
    Apathisch liegt sie da und lässt alles mit sich geschehen. Langsam komme ich wieder zu Kräften, aber ich muss noch zweimal mit meiner Beute fliehen, denn die Autofahrer, geführt von dem Ehemann meines Opfers, veranstalten eine Art Treibjagd auf mich.
    Schreie hallen durch den Wald. Ich komme mir vor wie ein wildes Tier im Urwald, das von den Jägern eingekreist wird. Aber sie können mir nichts anhaben. Sobald sie mich erblicken, verschwinde ich.
    Jetzt befinde ich mich wieder an der Schnellstraße, immer noch mit der kleinen Frau auf den Armen. Ich hole einen Augenblick Atem, dann überwinde ich eine besonders große Entfernung. Diesmal versetze ich mich in die Nähe von Paris.
     

     

»Wer sind Sie?«
    Sie heißt Solange. Sie sitzt neben mir auf dem Boden und hat jede Angst verloren. Ich habe sie völlig beruhigt. Sie fühlt sich nur schwach, und ab und zu greift sie an ihren Hals, wo sie die kleine Wunde, die ich ihr zugefügt habe, ein wenig juckt.
    »Die Zeitungen sind voll von Berichten über mich. Ich bin der Mann, der aus der Klinik in Courbevoie geflohen ist.«
    »Jean Morel?«
    »Ja.«
    »Das ist nicht möglich.«
    »Warum?«
    »Aber es heißt doch, dass Sie ein junger Mann seien.«
    »Ich bin fünfunddreißig, aber ich weiß, dass ich aussehe wie fünfundvierzig.«
    »Sagen wir lieber, wie sechzig.«
    »Wie?«
    Ich hebe die Hand und betaste mein Gesicht. Falten – die Haut eines Greises. Ich betrachte meine Hände und stelle mit Entsetzen fest, dass auch meine Hände die eines alten Mannes sind. Mein Gott!
    Solange sagt: »Haben Sie das nicht gewusst?«
    Jedes Mal, wenn ich von meinen Fähigkeiten Gebrauch mache, altere ich –jedes Mal. Plötzlich habe ich Angst. Panische Angst. Ich wage nicht einmal mehr, Solanges Gedanken zu kontrollieren. Plötzlich stößt sie einen schrillen Schrei aus und rennt Hals über Kopf davon.
    Es ist mir gleichgültig. Ich lasse sie laufen. Für mich ist jetzt nichts mehr wichtig. Eine namenlose Angst hat von mir Besitz ergriffen. Die Aufforderung Marlats. Jetzt fällt sie mir wieder ein. In dem Zeitungsartikel, den ich gelesen habe, legt er mir nahe, mich freiwillig zu stellen. Er glaubt, den Prozess meiner biologischen Entwicklung stoppen zu können.
    Er glaubt. Ich sehe im Geist sein Arbeitszimmer, den großen, leeren, spiegelblanken Tisch, das Ruhebett. Mein Gott, soll ich tatsächlich dorthin zurückkehren? Meine Panik ist so groß, dass ich nicht widerstehen kann. Im nächsten Augenblick befinde ich mich dort, noch erschöpfter und wahrscheinlich noch mehr gealtert.
    Tränen rinnen mir über die Wangen. Ich hebe die Hände und sehe, dass sie zittern. Marlat ist da. Er sitzt hinter seinem Schreibtisch.
    »Ich habe Sie erwartet, Morel.«
     

     
    Er trägt einen Kopfverband. Einen Augenblick lang sehen wir uns wortlos an. In seinem Blick lese ich unendliches Mitleid. Tatsächlich Mitleid?
    »Wie konnten Sie wissen, dass ich zurückkommen würde?«
    »Weil ich sicher war, dass Sie eines Tages die Nerven verlieren würden.«
    »Ich habe keine Chance mehr, nicht wahr?«
    »Die Aussichten sind sehr gering. Ich habe nicht viel Hoffnung. Glauben Sie bloß nicht, dass ich Sie zu belügen versuche. Übrigens verberge ich Ihnen nicht meine Gedanken. Sie können sich selbst davon überzeugen, was ich von Ihrem Zustand halte.«
    »Ich habe nicht mehr den Mut dazu.«
    Er steht auf, geht um den Schreibtisch herum und stellt sich neben mich. »Legen Sie sich hin.«
    Das Ruhebett befindet sich hinter mir. Ich strecke mich darauf aus. Marlat legt mir die Hand auf die Stirn.
    »Haben Sie gemerkt, dass Sie jedes Mal um Jahre altern, wenn Sie von Ihren neuen Fähigkeiten Gebrauch machen?«
    »Ja.«
    »Eine natürliche Reaktion Ihres Organismus. Wenn Sie hier geblieben wären, hätte ich es bestimmt rechtzeitig
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