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Zwölfender

Zwölfender

Titel: Zwölfender
Autoren: Britta Schröder
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mich aber am meisten beunruhigte, war der leise Verdacht, dass es zwischen Merce und mir gewisse Ähnlichkeiten gab.
     
    Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Merce stand noch vor dem Hotel.
    Es dämmerte bereits. Er schaute zu mir hoch und sah, dass ich ihn sah. Eine Weile lang verharrten wir in gegenseitiger Beobachtung.
    Dann bückte er sich, legte, mich weiterhin fixierend, die Krücke beiseite – und lief los. Er umrundete den menschenleeren Platz mit immer weiter ausholenden Schritten. Seine Bewegungen wurden mit jedem Satz geschmeidiger. Der riesige Pfefferbaum in der Mitte des Platzes versperrte mir kurzfristig die Sicht, doch dann sah ich ihn wieder: Nach einer Umrundung berührte er kaum mehr den Boden.
    Ich sah alles wie in Zeitlupe.
    Nach der dritten Runde landete er bei seiner Krücke, hob sie auf und humpelte, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, in die nächste Gasse.
     
    Erst als sich die Laternen auf dem Platz einschalteten und alles in Theaterlicht tauchten, fand ich wieder zu mir.
     
    Der einzige Ort, an dem Merce keinen Ärger verursachte, war eine Bar an der Plaza Prat. Jeden Abend um Punkt 22 Uhr steuerte er den kleinen holzgetäfelten Raum mit den immer gleichen Statisten an. Er hatte sie mir als seine Freunde vorgestellt, doch mein Eindruck war eher, dass sie ihn duldeten, wie man anstrengende Verwandte duldet.
    Dort musste ich hin.
     
    Er saß auf einem Hocker am Tresen und wippte im Takt der Musik, die aus zwei Lautsprechern an der Decke dröhnte.
    »Merce«, sprach ich ihn an. Er reagierte nicht.
    »Merce«, wiederholte ich fester.
    »Was gibt’s denn?«, fragte er, als sei nichts gewesen. »Setz dich. Bestell dir was. Willst du einen Pisco?«
    »Merce. Bitte rede mit mir. Was ist da eben passiert?«
    »Was denn?«
    »Du bist …«, ich kam mir lächerlich vor und suchte nach den richtigen Worten. »Du bist so etwas ähnliches wie geflogen«, sagte ich.
    Merce lachte auf und drehte sich zu mir. »Geflogen?«
    Sein Erstaunen wirkte nicht gespielt.
    »Du brauchst wirklich Ferien«, sagte er und legte eine Hand um meinen Nacken.
    Ich schlingerte in einen Kuss, der nach Alkohol schmeckte, bitter und abgestanden.
    Ich nahm etwas Abstand.
     
    An diesem Abend betranken wir uns, als wäre jedes Glas ein Tritt gegen die Saloontür zur Freiheit. Sie schwang auf und fiel wieder zu, schwang auf und fiel zu, schwang auf und fiel zu.
    Merce zeigte sich von seiner liebenswürdigen Seite. Er erwies sich, wenn er wollte, als ziemlich gebildet.
    Als wir uns vor der Bar voneinander verabschiedeten, fragte ich ihn: »Wo wohnst du eigentlich?«
    »Ich habe eine Matratze, die das entscheidet.«
     
    Ich stolperte in mein Hotel und schlief bis zum Mittag.
     
    Seit einer Woche sieht mein Handgelenk wieder normal aus, nur manchmal, wenn ich Kraft einsetzen muss, sticht mir ein brennender Schmerz ins Mark.
    Das wird sicher wieder.
    Das wird schon.

8
    Als ich am nächsten Tag aufwachte, sang mein Schädel ein Lied vom Untergang.
    Inzwischen war ich seit fünf Tagen in Copiapó – und meinem eigentlichen Reiseziel noch um keinen Meter nähergekommen. Ich zwang meinen Körper in die Senkrechte, ließ mir eine Kanne Kaffee aufs Zimmer bringen, schob mich in die Dusche und verweilte unter dünnen Wasserstrahlen, bis sich der Nebel in meinem Kopf senkte.
    Ein Plan musste her.
     
    Als Erstes wollte ich ein Internetcafé aufsuchen.
    Ich hoffte auf eine Nachricht von Aaron, eigentlich mehr noch auf eine von Robert, und auf einen kurzen Zwischenbericht meiner Kolleginnen.
    Wie an den Tagen zuvor erwartete mich Merce auch diesmal wieder in der Lobby. Er sah nicht annähernd so angegriffen aus wie ich, trug aber erstmals – die fortgeschrittene Mittagszeit wohl einberechnend – schon seine zusammengerollte Luftmatratze mit sich.
    »Können wir bitte irgendwohin, wo ich ins Internet komme?«, fragte ich ihn.
    »Jap. Unicampus«, antwortete er und stand auf.
     
    »Du siehst aus wie ein irischer Wolfshund«, stellte er auf der Straße fest.
    Ich strich mir ordnend übers Haar und sagte aus Verlegenheit: »Welche Frau hört das nicht gern?«
    »Es sind nicht deine Haare«, entgegnete er. »Allmählich wird mir klar, mit wem ich es zu tun habe.«
    »So?«, gab ich zurück und griff mir seine Krücke. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe behaupten.« Er strahlte.
     
    Auf dem Weg zum Campus sprachen Merce und ich kaum miteinander. Es war sonnig, aber kühl, und so schloss ich den Reißverschluss
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