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Zwölfender

Zwölfender

Titel: Zwölfender
Autoren: Britta Schröder
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Oberkörper senkrecht teilte und nur mit groben Stichen zusammengehalten wurde.
    Auf einem op -Tisch vor mir lag mein Herz. Es wirkte geschwollen, ungesund und finster. Neben mir stand ein Chirurg, der mir in nüchternen Worten erörterte, welche Eingriffe er vornehmen würde, um es wieder funktionstüchtig zu machen.
    Ich betrachtete das schwartige Ding auf dem Tisch.
    Als ich einen Teil davon anhob, biss es mich fest in die Hand.
     
    In Copiapó stellte ich fest, dass Merce mich als seine Schutzbefohlene betrachtete. Während der folgenden Tage begleitete er mich überall hin. Nur nachmittags zog er sich für wenige Stunden zurück.
    Zunächst nahm ich an, dass er irgendeiner Hilfsarbeit nachzugehen hätte, doch ich irrte. Auf einem meiner Streifzüge durch das Umland sah ich ihn zufällig: Er trug eine zusammengerollte Luftmatratze mit sich und humpelte auf die Uferböschung des Rio Copiapó zu. Mit seiner Krücke stocherte er im Gebüsch, offenkundig auf der Suche nach irgendetwas. Schließlich zog er einen Blasebalg daraus hervor, verband ihn mit der vor ihm auf dem Boden liegenden Matratze und setzte zu einer regelmäßigen Pumpbewegung an.
    Etwas später sah ich ihm dabei zu, wie er den Blasebalg ins Gestrüpp zurückwarf, die Matratze umständlich aufs Wasser bugsierte, sich in seinem Anzug darauflegte und mit seinem Gehstock vom Ufer abstieß. Dann, eine lange Weile, trieb er auf dem Fluss. Als er die nächste Biegung erreichte, verlor ich ihn aus dem Blickfeld.
     
    Die Frage, ob ich Merce mochte, war anfangs nicht eindeutig zu beantworten.
    Seit unserer Ankunft ließ mein Begleiter kaum eine Gelegenheit aus, Missmut und Streit zu provozieren, auch wenn er mich dabei verschonte. Sein Gezänk aber hatte mich schon mehrfach in unangenehme Situationen gebracht und unter anderem dazu geführt, dass ich mein erstes Hotelzimmer nach nur zwei Übernachtungen freiwillig räumte, weil Merce den Wirt wegen einer Kleinigkeit, die ihn zudem gar nichts anging, bedroht hatte. Auch im zweiten Hotel hockte er, wann immer ich mein Zimmer verließ und die Lobby betrat, in einem Sessel und bedachte jeden, der passierte, mit einer abfälligen Bemerkung.
     
    Nach dem Zwischenfall im Hotel nahm ich mir vor, Merce eine Lektion in Sachen Höflichkeit zu erteilen. Jetzt, im Rückblick, kommt mir dieses Vorhaben nicht nur aussichtslos, sondern auch reichlich vermessen vor.
    Damals aber (»damals«, eigentlich lächerlich – es ist kaum ein Vierteljahr her) verstand ich noch nicht, dass seine Angriffslust der einzige Weg für ihn war, den Kontakt zu anderen Menschen herzustellen und sich gleichzeitig seiner Einsamkeit in der Welt zu versichern. Diese Einsamkeit galt es mit allen Mitteln zu verteidigen, denn über die Jahre hatte sie sich als das Einzige erwiesen, das Merce an sich zuverlässig wiedererkannte. Im Nachhinein rührt mich, dass er mir gegenüber eine Ausnahme machte.
     
    Seinen schlimmsten Anfall hatte Merce in einem Supermarkt.
    Wir standen in der Kassenschlange. Mit einem Fuß schob ich einen Sechserpack Wasserflaschen vor mir her. Hinter uns wartete eine alte Frau mit einem Gehwagen. Jedesmal, wenn sich die Schlange um ein paar Zentimeter nach vorne bewegte, rückte sie mit ihrem Wagen etwas zu weit nach, mir in die Fersen.
    Ich drehte mich zu ihr um und bat sie höflich, etwas Abstand zu halten. Sie entschuldigte sich, doch Merce flippte aus.
    »Spasmaten!«, krakeelte er. »Immer schön blöd und blind ab durch die Mitte! Wenn du nicht vernünftig laufen kannst, bleib zu Hause!« Er fuchtelte mit seiner Krücke vor dem entsetzten Gesicht der Frau herum, bis ich ihm das Ding aus der Hand riss und ihn anherrschte, ruhig zu sein.
    »Was denkst du dir eigentlich?«, zischte ich. »Soweit ich weiß, bist du selbst nicht ganz auf der Höhe.«
    Sein Blick glich dem eines beleidigten Kindes, doch dann lachte er mich höhnisch an, entwand mir seinen Stock und schlug ihn auf den Boden. »Ach, das ist dir aufgefallen? Da bin ich aber froh! Dann wirst du sicher auch bemerkt haben, dass ich damit niemandem im Weg stehe!«
    »Doch. Mir!«, schrie ich zurück, zahlte und stürzte zum Ausgang.
     
    Merce. Ich war entschlossen, mich fortan von ihm fernzuhalten.
    Er humpelte hinter mir her, bis wir mein Hotel erreichten. »Lass mich in Ruhe!«, blaffte ich. »Hau ab! Verschwinde!«
     
    In meinem Zimmer verriegelte ich die Tür, setzte mich aufs Bett, stand wieder auf, ging umher, setzte mich erneut. Ich war fassungslos. Was
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