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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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Iðunn.» Ich wünschte, sie könnte es genauso stark wie ich in ihrem Herzen spüren, dass unser kleiner Junge in Sicherheit und in unserer Nähe ist, auch wenn er für uns unerreichbar bleibt.
    «Du warst auf einem Morphium-Trip», sagt Iðunn, trocknet sich das Gesicht mit dem Ärmel und bemüht sich, eine entschlossene Miene aufzusetzen.
    «Nein, das war, bevor er mir die Spritze gab, und es war etwas anderes als ein Rausch.» Für diese Erfahrung gibt es keine Worte. «Ich glaube, ich habe die Anwesenheit Gottes gespürt», sage ich, und dem ist nichts hinzuzufügen. Davon kann man niemanden überzeugen, man muss es selbst im Herzen spüren.
     
    Zwei Tage später bin ich immer noch guter Laune, obwohl mich zwischendurch die Trauer überwältigte und ich das Schicksal meines Bruders beweinte und ihn so schmerzlich vermisste, dass es mir den Atem verschlug. In meinem Herzen wohnt ein ruhiges Glück, ich bin weder wütend noch verbittert, und ich bemitleide mich auch nicht mehr länger für das Leben, das ich geführt habe. Im Gegenteil, ich bin dankbar und voller Demut, dem vorzeitigen Tod entronnen zu sein. Am Tag meiner Entlassung gehe ich ins Nachbarzimmer, in dem Fríða liegt. Ich habe an sie gedacht und mich vor ihrem Anblick gefürchtet, aber ich bin erleichtert, als ich ihr Zimmer betrete, denn äußerlich sind keine Spuren zu erkennen. Sie liegt still da, mit einem Gesicht fast so weiß wie das Kissen. Als ich ihren Namen flüstere und ihre Hand streichele, die auf der Bettdecke liegt, öffnet sie einen Moment die Augen und lächelt. Ich weiß nicht, ob sie allmählich zu sich kommt oder ob meine Berührung nur die Unterbrechung eines viele Tage andauernden Traumes war. Ich nehme ein Taxi und lasse mich direkt zum Meeting in der Hverfisgata fahren. Das ganze Meeting hindurch höre ich interessiert zu und verstehe erstmals alles, was die einzelnen Teilnehmer sagen. Das Gebet am Ende erfüllt meine Brust mit Frohsinn und Hoffnung, und ich umarme so viele ich kann. Ich bin heute frei von dem Drang zu trinken, und dies ist eine verpflichtende Entscheidung, die ich mit Freude treffe. Zu Hause wasche ich ungelenk mit einer Hand ab und sammele die Kleidungsstücke auf, die in der Wohnung herumliegen. Mir wurde ein zweites Leben geschenkt, und diesmal will ich sorgfältig damit umgehen und es gut nutzen.
     
    Einige Abende später liege ich auf dem Boden auf dem Bauch und liste die Punkte an meinem Verhalten und meiner Geschichte auf, mit denen ich noch nicht zufrieden bin. Wegen meiner Rückenschmerzen kann ich weder lange sitzen noch stehen. Am besten ist es, wenn ich mich entweder bewege oder liege, und ich habe inzwischen viele neue und erstaunliche Stellungen kennengelernt, in denen sich der Körper erholen kann, während ich trotzdem tue, was getan werden muss. Auf meiner Liste der Versäumnisse landet allerhand, und diese Dinge sind nicht so leicht wiedergutzumachen. Dennoch kann ich etwas tun. Als ich mit der Liste zufrieden bin, mache ich mir ein Sandwich mit Krabben und Gemüse. Damit lasse ich mich ins Sofa fallen, und während ich kaue, nehme ich all meinen Mut zusammen. Als ich mit dem Sandwich fertig bin, rufe ich Iðunn an und frage sie, ob sie mich morgen abholen und nach Vífilsstaðir fahren kann. Ich muss noch einmal dorthin, um mit mir ins Reine zu kommen und das Entsetzen zu bewältigen, das mich erfasst, wenn ich an den Schuppen denke. Iðunn ist einverstanden. Da sie sich nach dem Abschluss des Falls ausruhen will, bummelt sie einige Urlaubswochen vom Vorjahr ab und hat die nächsten Tage genug Zeit, mich zu treffen.
     
    Als Iðunn hupt, gehe ich vorsichtig die Treppe hinunter. Normalerweise nehme ich die Stufen in wenigen Sätzen, aber jede schnelle Bewegung ist schmerzhaft. Der Arzt sagte, dass ich vermutlich noch einige Wochen Beschwerden haben werde. Es ist einer dieser stillen Frühlingsmorgen, die die Verheißung wärmerer Tage in sich tragen. Die Sonne steht tief, aber die Helligkeit ist gelber geworden und das bläuliche Winterlicht verschwunden.
    «Das war vielleicht eine verrückte Zeit», sagt Iðunn, als wir losfahren.
    «Ja», sage ich und überlege, an was sie wohl genau denkt. Möchte sie mich um Verzeihung bitten, weil sie mich verdächtigt hat? Kurz steigt Ärger in mir auf. Ich muss sie danach fragen.
    «Hast du mich wirklich ernsthaft verdächtigt, Iðunn?» Sie schaut mich nachdenklich an.
    «Nein», sagt sie und lächelt. «Allerdings wäre es unprofessionell von mir
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