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Gottesstreiter

Titel: Gottesstreiter
Autoren: dtv
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|5| Prolog
    Die Welt, werte Herren, hat begonnen, größer zu werden. Aber gleichzeitig ist sie auch kleiner geworden.
     
    I hr lacht? Weil ich, wie es scheint, Unsinn rede? Weil das eine das andere ausschließt? Gleich werde ich Euch beweisen, dass dies
     keineswegs der Fall ist.
    Seht doch mal aus dem Fenster, edle Herren. Was seht Ihr da, worauf fällt Euer Blick? Auf die Scheune, antwortet Ihr, was
     der Wahrheit entspricht, und auf den Abtritt dahinter. Aber was ist da weiter, frage ich, dort hinter dem Abtritt? So merkt
     denn auf: Wenn ich die Maid frage, die eben mit den Bierkrügen herbeieilt, wird sie antworten, dass hinter dem Abtritt ein
     Stoppelfeld ist, hinter dem Stoppelfeld Jachyms Anwesen, dahinter die Teerbrennerei und noch ein Stück weiter wohl schon Klein-Kosolup.
     Wenn ich unseren Wirt frage, der mir etwas weltläufiger erscheint, dann wird er hinzusetzen, dass dies noch lange nicht das
     Ende ist, denn hinter Klein-Kosolup liegt Groß-Kosolup, nach den beiden kommt der Weiler Kozmirau, hinter Kozmirau das Dorf
     Lahse, hinter Lahse Goschütz, und hinter Goschütz liegt dann wohl schon Festenberg. Aber merkt auf, umso weltgewandter die
     Menschen sind, die ich befrage, wie zum Beispiel Euch, desto weiter entfernen wir uns von unserer Scheune, dem Abtritt und
     den beiden Geißenhügeln – denn einem weltgewandteren Verstand ist wohl bekannt, dass auch hinter Festenberg die Welt nicht
     zu Ende ist, denn dahinter liegen Oels, Brieg, Falkenberg, Neisse, Leobschütz, Troppau, Jitschin, Trentschin, Neutra, Esztergom,
     Buda, Belgrad, Ragusa, Janina, Korinth, Kreta, Alexandria, Kairo, Memphis, Ptolemais, Theben   ... |6| Na, wie sieht’s aus? Wächst unsere Welt etwa nicht? Wird sie nicht immer größer?
    Und auch dort ist sie beileibe noch nicht zu Ende. Folgt man hinter Theben dem Nil, der als Fluss Gihon einer Quelle im irdischen
     Paradies entspringt, flussaufwärts, so gelangt man zum Lande der Äthiopier, hinter dem bekanntermaßen das Wüstenland Nubien
     liegt, das heiße Land Kusch, das Goldland Ophir und die ganze unermessliche
Africae Terra, ubi sunt leones
. Und dahinter der Ozean, der die ganze Erde umfließt. Aber auch in diesem Ozean gibt es noch Inseln   – Cathay, Taprobane, Bragine, Oxidrate, Gynosophe und Cipangu, wo das Klima wundersam fruchtbringend ist und Edelsteine zuhauf
     herumliegen, wie es der Gelehrte Hugo von St. Victor und Pierre d’Ailly beschreiben, und auch der edle Herr Jean de Mandeville,
     der jene Wunder mit eigenen Augen gesehen hat.
    Somit ist also bewiesen, dass unsere Welt in den letzten paar Jahrhunderten wesentlich größer geworden ist. In gewissem Sinne,
     versteht sich. Hat auch die Welt nicht an Substanz gewonnen, um neue Namen ist sie gewiss reicher geworden.
    Wie aber, fragt Ihr, soll man damit die Behauptung in Einklang bringen, die Welt sei kleiner geworden? Gleich werde ich Euch
     dies darlegen und beweisen. Zuvor aber bitte ich, Ihr möget weder spotten noch dreinreden, denn das, was ich sage, ist keineswegs
     eine Ausgeburt meiner Phantasie, sondern entspricht dem Wissen, das ich aus Büchern geschöpft habe. Und über Bücher soll man
     nicht spotten, denn schließlich hat sich ja jemand ganz fürchterlich abmühen müssen, damit sie entstehen konnten.
    Wie man weiß, ist unsere Erde eine flache Scheibe von der Gestalt etwa eines runden Pfannkuchens, in deren Mitte Jerusalem
     liegt und die ringsum vom Ozean umgeben ist. Im Okzident bilden Calpe und Abyle, die Säulen des Herkules, mit der Meerenge
     von Gades dazwischen, das Ende der Welt.
    Im Süden erstreckt sich der Ozean hinter Afrika, wie ich gerade ausführte. Im Südosten endet das Festland in
India inferior
, |7| das dem Presbyter Johannes gehört, dort leben auch die Völker Gog und Magog. Im septentrionalen Teil der Welt ist Ultima Thule
     das letzte Stückchen Land, dort jedoch,
ubi oriens iungitur aquiloni
, liegt das Land Mogal, das Tartarenreich. Im Osten hingegen endet die Erde am Kaukasus, ein Stück hinter Kiew.
    Und nun kommen wir zum Wesentlichen. Das heißt zu den Portugiesen. Genauer gesagt, zum Infanten Heinrich, dem Herzog von Viseu,
     einem Sohn König Johanns. Portugal, das lässt sich nicht leugnen, ist kein sehr großes Königreich, der Infant stand als Sohn
     des Königs erst an dritter Stelle in der Thronfolge, kein Wunder also, dass er von seiner Residenz in Sagres öfter und hoffnungsvoller
     hinaus aufs Meer blickte als nach Lissabon. Er berief
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