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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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bemühe, mich dagegenzustemmen, es tut weh. Nach einer Weile gebe ich auf und versuche den Körper zu entspannen, hänge kraftlos da, dann sind die Schmerzen in den Extremitäten am ehesten auszuhalten. Allmählich merke ich, wie die Bewegungen weniger werden, bis ich ruhig vor und zurück schwinge, und als ich hochblicke, ist er verschwunden.
    Ich horche, aber kann außer dem Brausen des Verkehrs nichts ausmachen. Es muss einen Eingang zu diesem Schuppen hinter mir geben. Da ich nun allein bin, überkommt mich der Ehrgeiz, dass ich mich möglicherweise befreien kann. Ich werfe mich wild hin und her, aber sehe schnell ein, dass es keinen Sinn hat und das Gezappel nur noch mehr Schmerzen verursacht. Ich muss meine Lage analysieren und einen Weg finden, mich zu befreien. Die Taue unter den Armen, um die Ellenbogen und an den Beinen sind um mich herumgewickelt und zusätzlich mit grauem Tape befestigt, das ich unmöglich zerreißen oder durchscheuern kann. Man muss es abziehen. Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich mit den Fingern anfangen muss. Wenn ich eine Hand frei hätte, könnte ich mich losmachen. Ich werde mich auf die rechte Hand konzentrieren, mit der ich geschickter bin, und versuche, mit dem Mittelfinger die Schnur vom Zeigefinger zu rubbeln. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Fäden sind so gespannt, dass die Finger gespreizt sind, und zudem ist die Schnur so fest um den Zeigefinger gebunden, dass das letzte Glied dick geschwollen ist. Zwischendurch entspanne ich mich, dann versuche ich es erneut, in der Hoffnung, dass sich die Schnur allmählich verschiebt. Es wird dämmrig in dem Schuppen, und das schwache Tageslicht, das vorhin durch die Ritzen an der Tür drang, ist nun zu dem mattgelben Schein einer elektrischen Beleuchtung geworden. Das Rauschen des Verkehrs hat beträchtlich zugenommen, der Berufsverkehr wird eingesetzt haben. Wo bin ich bloß? Wo am Stadtrand könnten alte Bauernhöfe und Verkehrsadern sein? Ich stelle mir vor, was ich zuerst mache, wenn ich hier raus bin. Wahrscheinlich ist es am besten, auf die belebte Straße zu laufen, ein Auto anzuhalten und Iðunn anzurufen. Ich gebe mich Tagträumen über Iðunns Dankbarkeit und Bewunderung hin, wenn ich diesen größten Mordfall in der isländischen Geschichte löse. Aber dann erinnere ich mich, dass ich immer noch hier bin, verschnürt und von der Decke hängend wie ein Hähnchen im Schlachthaus, und bisher ist es mir nicht gelungen, den Finger frei zu bekommen. Die Furcht krallt sich in meine Eingeweide, als ich zum ersten Mal in Betracht ziehe, dass ich mich eventuell gar nicht werde befreien können, sondern hier darauf warten muss, bis es dem Teufel einfällt, mich zu töten. Der kalte Schweiß bricht mir aus, ich weiß nicht, ob aus Furcht oder vor Anstrengung, mich ruhig zu halten, während ich mich anstrenge, den Zeigefinger zu befreien. Ich rubbele weiter, entspanne mich, setze wieder an, aber ich muss in einer Entspannungsphase eingeschlafen sein, denn plötzlich ist vom Autoverkehr fast nichts mehr zu hören, nur noch das eine oder andere vorbeirauschende Auto. Ich setze meine Bemühungen fort, und plötzlich ist es vollbracht. Ein Triumphgefühl überkommt mich, dann konzentriere ich mich auf die Schnur am Mittelfinger. Wenn ich die ganze Nacht zur Verfügung habe, gelingt es mir womöglich, alle Finger zu befreien, und dann gibt es noch Hoffnung. Diese Hoffnung wird zunichtegemacht, als ich hinter mir Schritte höre und Geir lachend sagt:
    «Nein so was, bist du schön fleißig, mein Lieber! Das geht so aber nicht.» Und dann bindet er das Stück Schnur wieder um den freien Zeigefinger, aber diesmal so fest, dass kein Blut mehr in die Fingerkuppe fließt. Die Enttäuschung ist groß, mein Magen schmerzt, und ich würde am liebsten schreien, aber den Gefallen will ich ihm nicht tun. Meine Wut findet ein Ventil, und ich überschütte ihn mit Megans Informationen über Serienmörder.
    «Warst du auch eines von diesen Kindern, denen es Spaß machte, Tiere zu quälen? Und hast du vielleicht Feuer gelegt und zugeschaut, wie es sich ausbreitet, und bist dann nach Hause gegangen, du elender Zwerg, um ins Bett zu pinkeln wie all die anderen Jammerlappen?» Worte sind das einzige Mittel, mit dem ich ihm unter den gegebenen Umständen beikommen kann, und ich will Geir in die Mangel nehmen, ihn dafür bestrafen, dass er meinen Bruder getötet hat, das Leben aus ihm herausquetschen, und ich lege alles in meine Beschimpfungen, von
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