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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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festgestellt habe, dass Demut nichts nützt. «Aber jetzt bist du in meiner Gewalt, mein Guter, und jetzt machst du, was ich dir sage!» Er zieht erneut an den Seilen, sodass mein Körper groteske Bewegungen vollführt. Meine Bemühungen, dagegen anzukämpfen und meine Bewegungen selbst zu steuern, sind absolut sinnlos. Ohne Bodenkontakt bin ich nur ein Spielball der Schwerkraft und dieses Mannes, der vor mir steht und ruft: «Tanz, Magni, tanz!», oder: «Lauf, so ja, lauf!», und mich quält, indem er heftig an den Seilen reißt, sodass mir schier die Hände und die Haare abgerissen werden.
    Ob aus Wut oder aus Furcht rufe ich:
    «Ich war vollkommen damit beschäftigt, einen Serienmörder zu jagen!» Tatsächlich zeigt mein Rufen Wirkung, er hört auf, und der Schmerz lässt zum Großteil nach.
    «Was sagst du da?» Geir beugt sich drohend vor.
    «Ich habe nicht befolgt, was du mir gesagt hast, weil ich vollkommen damit beschäftigt war, einen Serienmörder zu jagen», sage ich.
    «Serienmörder? Du kannst gerne irgendwelche Polizeibegriffe dafür verwenden, wenn du willst, aber ich habe eine klare und einfache Berufung im Leben», antwortet er. Ich schweige, damit er fortfährt und das sagt, was mir bereits schwant: «Ich bin der Rächer des Herrn, der die Welt von denen befreit, die es nicht wert sind, spirituelle Erweckung zu erfahren.» Nun weiß ich sicher, dass er derjenige ist, nach dem wir gesucht haben.
    «Mit anderen Worten, Alkoholiker, denen die Genesung nicht so gelingt, wie du es dir vorstellst.»
    «Mit anderen Worten, Alkoholiker, die in Wirklichkeit gar nicht genesen wollen!» Sein Gesicht ist jetzt dicht vor meinem, und ich sehe den Schweiß auf seiner Stirn und das schnelle Pochen der Adern an den Schläfen. «Was ist das denn für eine Art, jahrelang an dem zweiten Schritt herumzumachen und einfach keine innere Basis des Glaubens zu finden?»
    «Ich nehme an, du sprichst von Jón Ágúst?»
    «Jón Ágúst, der Versager. Er hörte zu, aber er wollte nicht auf den Herrn hören. Er wollte einfach nicht das verstehen, was wichtig war.»
    «Aber er ist nie rückfällig geworden», sage ich. «Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass er seine Sache gut gemacht hat?» Ich muss herausfinden, was dieser Wahnsinnige unter einem gerechten Mord versteht.
    «Er wurde nicht rückfällig, aber war er geistig nüchtern? War er auf dem Weg der Genesung?»
    «Ich weiß es nicht», antworte ich. «Ich kannte ihn nicht.»
    «Aber ich kannte ihn! Und ich kann dir sagen, dass er in keinster Weise auf dem Weg der Genesung war! Und gemessen daran, wie wenig er sich anstrengte, hatte er es nicht verdient, die Erweckung des Herrn zu erfahren.»
    Das ist also sein Motiv, die höhere Berufung, die laut Megan die meisten Serienmörder haben. Er tötet Menschen, die ihre Aufgabe seiner Ansicht nach nicht zufriedenstellend erfüllen, ausgehend von seiner eigenen Definition von Gott.
    «War es mit Bjarni Jóhannes das Gleiche? Hat er sich nicht gebessert?» Ich will seine Erklärungen hören und wissen, warum dieser Drecksack meinen Bruder getötet hat.
    «Bjarni Jóhannes kam mit dem fünften Schritt nicht weiter, er arbeitete ihn immer wieder durch, aber setzte sich niemals mit seinem schwerwiegendsten Fehler auseinander. Er hat ein kleines Kind umgebracht.» Er schaut mich gespannt an, als ob er mir eine Neuigkeit mitgeteilt hätte.
    «Im Gegensatz zu dir, der nur Erwachsene umbringt.» Das hätte ich besser nicht gesagt, denn er versetzt mir einen mächtigen Fausthieb direkt auf den Mund. Ich schmecke Blut, und die Lippen werden taub.
    «Ich habe dir gesagt, dass ich der Rächer des Herrn bin.» Seine Stimme ist jetzt leiser. «Ich erleichtere ihm die Arbeit, sodass er nicht mit ansehen muss, wie all diese Versager sich zu Tode trinken und dopen und wir, die wir unsere Sache gut machen, nicht unter dem Gejammer dieses Packs zu leiden haben, das ständig um seine Probleme kreist, aber nicht die Maßnahmen ergreift, die ihnen der Herr als Unterstützung geschickt hat.»
    «Aber warum hast du meinen Bruder Egill getötet?» Ich merke, wie mir gegen meinen Willen Tränen über die Wangen laufen und sich mit dem Blutgeschmack im Mund mischen.
    «Neun Monate nüchtern und noch nicht seine Missetaten wiedergutgemacht.» Er schnalzt einige Male mit der Zunge und schüttelt den Kopf. Er zieht wieder an den Schnüren, und ich tanze wie ein Hampelmann in der Luft. Er lacht und amüsiert sich bestens, aber egal, wie sehr ich mich
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