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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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hast.»
    «Ja, bitte», antworte ich und merke hinterher, dass ich vergessen habe, sie zu korrigieren. Ich trinke große Schlucke von dem Wasser, das mir die Krankenschwester gebracht hat, lasse den schweren Körper wieder in die weichen Kissen zurücksinken und genieße es einfach, abwechselnd einzunicken und aufzuwachen.
     
    Der Arzt und Iðunn kommen gleichzeitig und setzen sich zu beiden Seiten meines Bettes. Der Arzt sagt, dass sie mich drei Tage im künstlichen Koma gehalten haben, um mir die schlimmsten Schmerzen zu ersparen. Und dass mein Zustand bei der Einlieferung ernst war, ich aber nun auf dem Weg der Besserung bin und mich in den nächsten Wochen wieder gut erholen werde. Dann holt er tief Luft und wirft einen Blick auf Iðunn, die den Atem anzuhalten scheint.
    «Leider konnten wir nicht alle Finger retten», sagt er ernst.
    «Man musste dir einen Finger amputieren, Magni», flüstert Iðunn leise und drückt meinen Arm, als wollte sie mir Kraft geben, diese Nachricht zu verdauen.
    Ich nicke und lächele dem Arzt aufmunternd zu, der zögernd zurücklächelt, weil er sicherlich eine andere Reaktion erwartet hat. Er erhebt sich, sagt, dass er am Abend wieder vorbeischaut, verlässt das Zimmer und lehnt die Tür an. Iðunn hält immer noch meinen Arm fest, während sie mir in groben Zügen berichtet, wie sie entdeckte, wer der Mörder ist und wie sie mich gefunden hat. Megan hat ihr von unserem Treffen am Abend berichtet, und als Iðunn mich erreichen wollte, um mir meine Ermittlungen auf eigene Faust auszureden, war ich nirgends aufzufinden, und das machte sie stutzig. Megan hat ihr gesagt, dass ich Atli beschatte, und Iðunn ist zu ihm gefahren. Und er hat sie wie mich zu Geir geschickt. Das Problem war nur, dass niemand in seiner Wohnung und er selbst verschwunden war. Bei ihren Nachforschungen stellte sie fest, dass er Hausmeister am Landeskrankenhaus ist, mit vollem Namen Jón Geir Kristinsson heißt und Kristján tot in der Krankenhauskapelle «gefunden hat». Als sie hörte, dass er schon eine Weile nicht zur Arbeit erschienen war, begann Iðunn nach möglichen Freunden und Verwandten zu suchen und trieb schließlich seinen alten Vater in einem Altersheim in der Weststadt auf. Der Alte hatte hässliche Geschichten über Geir als Kind und Jugendlichen zu berichten. Alle Versuche, aus ihm einen ordentlichen Menschen zu machen, waren gescheitert. Wenn er die Ferien auf einem Bauernhof auf dem Land verbrachte, gingen dort Tiere ein, und als ihn sein Vater mit zum Fischen nahm, fiel ein Seemann über Bord und ertrank. Der Hergang des Vorfalls blieb unklar, aber der Alte hatte immer den schlimmen Verdacht, dass Geir irgendetwas damit zu tun hatte.
    «Niemand kennt den Sohn besser als sein Vater», sage ich und denke an die Bilder an den Wänden neben der gekreuzigten Leiche von Jón Ágúst. Nach dem langen Gespräch mit dem alten Mann, in dem er ihr mitteilte, dass Geir für die Immobilien des Krankenhauses verantwortlich ist, überprüfte Iðunn sie alle, auf der Suche nach einem leerstehenden Gebäude, zu dem Geir Zugang hat. Dabei stieß sie auf den alten Stall von Vífilsstaðir, dem ehemaligen Lungensanatorium, der dem Landeskrankenhaus als Depot für alte Möbel und andere ausrangierte Dinge dient. Sowie sie Vífilsstaðir auf der Karte sah, hatte sie gespürt, dass ich dort war, als wäre sie von einer inneren Stimme angetrieben.
    «Danke, dass du mich gerettet hast, Iðunn», flüstere ich.
    «Gern geschehen», antwortet sie und drückt wieder meinen Arm.
     
    Ich betrachte meine Hand in dem weißen Verband, der einem Boxhandschuh gleicht, und obwohl ich weiß, dass darunter der Zeigefinger fehlt, macht es mir nichts aus. Nichts kann mir mein Glück in diesem Moment kaputt machen. Selbst wenn die ganze Hand weg wäre.
    «Ich habe Baldur wiedergesehen», sage ich, und Iðunn schaut mich an mit einem Blick, den ich so gut kenne und der mich immer so fürchterlich verwundbar ihr gegenüber macht. Der Blick sagt, dass sie nicht zu hoffen wagt. Dass sie sich nicht traut zu vertrauen, auch wenn sie wollte. «Ich habe ihn im Arm gehalten», flüstere ich, während ich mir die Gefühle in dem Schuppen ins Gedächtnis rufe. «Er war so warm und weich und duftete genauso wie damals.» Die Tränen laufen Iðunn die Wangen hinab, und ich strecke die Hand aus und versuche, sie zu streicheln, aber die Finger sind immer noch steif, und ich verteile bloß die Tränen auf ihrem Gesicht.
    «Ihm geht es gut,
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