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Enigma

Enigma

Titel: Enigma
Autoren: Robert Harris
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1.
    Cambridge im vierten Kriegswinter: eine Geisterstadt.
    Ein unaufhörlicher eisiger Wind, den über tausend Meilen hinweg nichts hatte aufhalten können, peitschte von der Nordsee herein und fegte über die flache Landschaft. Er ließ die Wegweiser zu den Luftschutzbunkern in Trinity New Court klappern und hämmerte gegen die mit Brettern vernagelten Fenster der King´s College Chapel. Er strich durch die Innenhöfe und Treppenhäuser und zwang die wenigen verbliebenen Lehrer und Studenten, in ihren Zimmern zu bleiben. Am Spätnachmittag waren die engen, mit Kopfstein gepflasterten Straßen menschenleer. Als die Nacht hereinbrach, lag die Universität, in der kein Licht zu sehen war, in völliger Dunkelheit, wie sie es seit dem Mittelalter nicht mehr erlebt hatte. Es hätte nur noch eine Prozession von Mönchen gefehlt, die auf ihrem Weg zur Abendandacht über die Magdalene Bridge zog.
    In der kriegsbedingten Verdunkelung verlor man jedes Gefühl für die Zeit.
    In diesen düsteren Flecken im Flachland Ostenglands kam Mitte Februar 1943 ein junger Mathematiker namens Thomas Jericho. Die Verwaltung seiner Schule, des King´s College, hatte nicht einmal einen Tag Zeit, sich auf seine Ankunft einzustellen. Es reichte gerade, um seine Zimmer wieder herzurichten, sein Bett zu beziehen und den Staub von mehr als drei Jahren von den Regalen und Teppichen zu kehren. Und sie hätten sich nicht einmal diese Mühe gemacht - schließlich war Krieg und Personal äußerst rar -, hätte nicht der Rektor höchstpersönlich in seinem Büro einen Anruf von einem ihm unbekannten, aber hochrangigen Beamten des Außenministeriums erhalten. Dieser äußerte die Bitte, man möge »sich um Mr. Jericho kümmern, bis er soweit wiederhergestellt ist, daß er seiner Arbeit nachgehen kann«.
    »Natürlich«, hatte der Rektor erwidert, der mit dem Namen Jericho beim besten Willen kein Gesicht verbinden konnte.
    »Natürlich. Wir freuen uns, ihn wieder bei uns zu haben.«
    Noch während des Gesprächs schlug er das College-Register auf und blätterte darin, bis er auf den Namen stieß: Jericho, T. R. G.; immatrikuliert 1935; Jahrgangsbester in Mathematik 1938; Junior Research Fellow mit einem Jahresgehalt von 200 Pfund; seit Ausbruch des Krieges nicht mehr an der Universität gesehen worden.
    Jericho? Jericho? Für den Rektor war er bestenfalls eine vage Erinnerung, der verschwommene Fleck eines jungen Mannes auf einem Collegephoto. Früher hätte er sich vielleicht an den Namen erinnert, aber der Krieg hatte den gleichmäßigen Rhythmus von Immatrikulation und Abschlußprüfung durcheinandergebracht, und alles lag im Chaos - der Pitt Club war jetzt ein Britisches Restaurant, im Park von St. John wuchsen Kartoffeln und Zwiebeln…
    »Er hat in letzter Zeit an Dingen von größter nationaler Wichtigkeit gearbeitet«, fuhr der Anrufer fort. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn man ihn ungestört ließe.«
    »Selbstverständlich«, sagte der Rektor. »Selbstverständlich. Ich werde veranlassen, daß er seine Ruhe hat.«
    »Haben Sie vielen Dank.«
    Der Beamte legte auf. Dinge von größter nationaler Wichtigkeit, bei Gott… Der alte Mann wußte, was das bedeutete. Er legte den Hörer auf die Gabel und betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich, dann machte er sich auf die Suche nach dem Verwalter.
    Ein College in Cambridge ist ein Dorf mit der Klatschsucht eines Dorfes, zumal dann, wenn dieses Dorf zu neun Zehnteln leersteht. Daher löste die Rückkehr von Jericho beim Personal des Colleges stundenlange Spekulationen aus.
    Da waren als erstes die Umstände seiner Ankunft, nur wenige Stunden nach dem Anruf beim Rektor, spät an einem verschneiten Abend. Er saß, in eine Reisedecke gehüllt, auf dem Rücksitz eines höhlenartigen Dienst-Rovers, der von einer jungen Frau in der dunkelblauen Uniform der Marinehelferinnen gefahren wurde. Kite, der Pförtner, der sich erboten hatte, das Gepäck des Gastes in dessen Wohnung zu tragen, berichtete, Jericho habe seine beiden ramponierten Lederkoffer umklammert und sich geweigert, sie aus der Hand zu geben, und das, obwohl er so blaß und mitgenommen aussah, daß Kite bezweifelte, ob er es schaffen würde, ohne Hilfe die Wendeltreppe hinaufzukommen.
    Dorothy Saxmundham, die Aufwartefrau, sah ihn als nächste, als sie am folgenden Tag zum Saubermachen erschien. Er lag gegen die Kissen gelehnt und starrte hinaus in den Schneeregen, der über den Fluß hinwegpeitschte, und er drehte nicht einmal den
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