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Zwischen Wind und Wetter

Zwischen Wind und Wetter

Titel: Zwischen Wind und Wetter
Autoren: Ulrich Straeter
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jetzt Lieder aus den zwanziger Jahren. Das hätte unseren Eltern gut gefallen.
    Es ist Nacht geworden, dunkle Nebelfetzen wabern am Fenster vorbei, die Fähre zieht ruhig ihre Bahn, hoffentlich den richtigen Kurs, wenn die Elektronik nicht versagt; unsere Medizin wirkt beruhigend und schmeckt, Ilse lacht und der Kapitän kann zufrieden sein. Ob wir unsere Kabine überhaupt brauchen, wenn das weiter so träumerisch ist in der Bar auf der ‘Val de Loire’, auf dem Ärmelkanal zwischen Cork und Roscoff? Eisberge sind nicht in Sicht, Titanic adé!
    Ach, unsere Kabine da unten, weit unter der Wasserlinie, zehn Decks unter uns, erreichbar mit dem Fahrstuhl.
    »Wie ist das eigentlich, wenn eine starke Welle das Schiff hochhebt und man schwebt gerade mit dem Aufzug nach unten ?« fragt Ilse.
    Die Medizin scheint gut gewirkt zu haben.
    Irgendwann sind wir dann doch mit dem Fahrstuhl nach unten in die Bilge getaucht. Ruhig gleiten wir in unserem U-Boot durch die See, schlafen etwas, träumen gar — und werden kurz vor fünf Uhr von einem nervigen, elektronischen Big Ben-Geläute aus dem Kabinenlautsprecher geweckt. Big Ben auf einem französichen Schiff? Damit kann man wohl den hartgesottensten Iren aus dem Schlaf jagen...

    Wir stehen an der Reling. Aus dem Dunst tauchen die Fläuser und der Leuchtturm von Roscoff auf. Wir nähern uns dem Fähranleger. Männer in blauen Latzhosen kommen mit Autos und Mopeds auf den Kai gefahren, um die dicken Taue um die Poller zu legen.
    Langsam schiebt die Fähre sich seitwärts mit der Scheuerleiste an die hydraulischen Fender heran, dann ein letzter Ruck: wir sind da.

    1.176 Kilometer zeigt der kleine Kilometerzähler an meiner Vorderradgabel. Über tausend.
    Aber darauf kam es nicht an.

BRIEF AN HEINRICH BÖLL...

    Essen, im Februar 1996

    Lieber Heinrich Böll, dear Henry,

    junge, rothaarige Irinnen auf Fahrrädern gibt es noch immer. Natürlich tragen sie jetzt bunte moderne Kleidung, T-Shirts und Jeans, benutzen Mountain Bikes oder Herrenrennräder. Und noch immer ist das Post Office am Sonntag geöffnet, das Loch in der eisernen Brücke mit einem Holzbrett geflickt. In unserem Heimatland wäre die Brücke sicherlich gesperrt, wie die Rolltreppen am Hauptbahnhof, die nicht mehr repariert werden.
    Irische Jungen üben europäischen Fußball; gut schießen können sie nicht (aber das wird noch werden, da bin ich sicher).
    Die Vorhänge in den Pubs werden um 22 Uhr zugezogen, aber ich glaube, sie nehmen es nicht mehr so ernst. Die Frauen sitzen mit im Pub, nicht mehr in der Lounge, das ist nun selbstverständlich.
    An manchem Curragh hängt hinten ein Außenbordmotor, ja, die Zeit bleibt nicht stehen.

    Habe ich schon erzählt, daß es ganz viele Plastiktüten vom Supermarkt gibt, die überall herumfliegen? Die weißblauen sind von Spar, die weißroten von Valu. Irland gehört seit Jahren zur Europäischen Gemeinschaft, die jetzt Union heißt; es hat sich vieles verändert, nicht nur auf dem Agrarsektor. Nicht bei den Schafen, die sind noch immer da, reichlich, und liegen auf dem warmen Asphalt am Rand der Straßen. Doch die Autos haben sich die Straßen erobert, endgültig. Bescheidener Wohlstand, ungleich verteilt, wie das im Kapitalismus so ist, hat sich entwickelt; aber auch 21 % Arbeitslosigkeit zeugen, wie bei uns, vom Versagen hochdotierter Politiker.
    In den Städten wird gebettelt und gesammelt wie ehedem, und der Traktor neulich, mit den wabernden Vorderrädern, er stammte sicherlich aus den 50er Jahren.
    Was gibt es nicht, oder immer noch nicht?
    Ja, lieber Heinrich Böll, Düsenjäger und Tiefflieger und Atomkraftwerke und leider auch Frieden in Nordirland, das gibt es nicht.
    Ehescheidungen sind neuerdings erlaubt, und das Land hat eine weibliche Präsidentin, die eine Frau ist.
    Der Einfluß der katholischen Kirche geht zurück, 150.000 protestierten gegen das Steuersystem (boycottieren können sie immer noch), ansonsten sind sie, die Iren und Irinnen, die größten Optimisten in Europa, jede/r zweite schaut hoffnungsvoll in die Zukunft, bei den traurigen Deutschen nur jede/r fünfte. Aber das war sicher auch früher schon so.
    Dear Henry, Guinness Stout wird heutzutage in der Kölner Altstadt im ‘Irish Pub’ vom Faß gezapft, und man kann Tullamore Whiskey und Kerry Gold Butter in jedem Supermarkt kaufen. Die Iren kommen!
    Immer mehr von uns verbringen ihren Urlaub auf der grünen Insel, zumal Air Lingus von Düsseldorf aus täglich sehr preiswert fliegt. Ähnlich
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