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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt
Autoren: Marie Lucas
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Blindverglasung, die die Fahrerkabine vom Transportraum trennt, kann ich die Schienen sehen, auf der normalerweise der Sarg ruht.
    »Sondereinsatz. Wir fahren zu einem Notfall«, sagt Niki und rollt vom Hof. »Das ist wie bei den Feuerwehrleuten: Die können sich auch nicht großartig anziehen, wenn’s mal brennt.« Er biegt in die beleuchtete, um diese Zeit immer noch erstaunlich belebte Hauptstraße ein.
    »Obwohl du zugeben musst, dass es bei deinen Kunden auf ein paar Minuten früher oder später nicht mehr ankommt.«
    »Auch wieder wahr.« Niki schiebt sich die Mütze nach hinten.
    Ich fummele am Radio, suche einen Sender und fange einen Fetzen von
This Is The Life
auf. Amy MacDonald. Mir wird sofort schlecht und ich drücke den Aus-Knopf. Noch ein Gespenst aus der Vergangenheit, aber eins, das mich jederzeit heimsuchen kann. Musik trifft einen wie Gerüche, unmittelbar. Weder der Traum noch die Erinnerung sind so gründlich.
    »Alles klar?«, fragt Niki, der mir einen raschen Seitenblick zuwirft, bevor er wieder anfährt.
    Ich nicke.
    »Irgendwann wirst du es vergessen«, versucht er zu trösten.
    Vergessen, dass ich einen Halbbruder habe, der mit mir erbittert um den Nachlass meines Vaters streitet? Vergessen, dass Justin mir seine tote Mutter auf den Hals gehetzt hat? Vergessen, dass er mich mit dem Wolfswesen alleineließ? Er hat mich alleingelassen! Nein, niemals. Das vergesse ich nie.
    »Hast du schon gehört?«, versuche ich mich davon abzulenken. »Erik ist gleich weg, nachdem sie ihn aus dem Krankenhaus entlassen haben. Sein ›Nervenzusammenbruch‹ war anscheinend auf Prüfungsstress zurückzuführen. Nun, wie auch immer: Er ist zurück nach London. Felix hat es mir erzählt.«
    Er schüttelt den Kopf. »Nein, wusste ich nicht.« Niki sieht starr geradeaus. »Aber schade ist es schon.«
    »Schade?«
    »Dass der Typ weg ist. Da sind noch ein Haufen Fragen offen. Was es mit diesen Beschwörungen auf sich hatte, zum Beispiel. Wie er das geschafft hat. Vielleicht … vielleicht geht das auch in die andere Richtung. Dass man sich vor Geistern schützen kann.« Er ist wohl auch schon auf den Gedanken gekommen, dass Tote ein leichtes Spiel mit ihm haben. Dass er für ihre Manipulationen offen steht wie ein Scheunentor. Und irgendwie versuchen muss, sich in Zukunft vor ihnen zu schützen.
    »Erik ist weg. Das ist erst einmal die Hauptsache«, versuche ich ihn zu trösten. »Und Anni tut es leid, dass sie auf ihren Bruder gehört und mich mit dieser SMS reingelegt hat, dass sie für immer in meiner Schuld steht und scheinbar so etwas wie meine persönliche Sklavin geworden ist.« Zumindest musste ich sie die erste Zeit beinah jede Pause davon abhalten, mir irgendetwas »spendieren« zu wollen: Ihre Art, mit Schuldgefühlen umzugehen, nehme ich an. Inzwischen hat ihre Sorge um mich wieder etwas nachgelassen. Worüber ich froh bin. Andere sind nicht so leicht abzuschütteln: Justin und ich werden uns wohl vor Gericht wiedersehen. Die Unterlagen hat sich mein Halbbruder zwar unter den Nagel gerissen, aber natürlich gibt es Kopien. Zumindest vom Testament, das er anfechten wird. Die Angelegenheit ist noch nicht ausgestanden, wird sich noch eine Weile hinziehen. Auch das ist nicht wichtig: Die Toten sind es, die mir Sorgen bereiten.
    Irgendwann wird Niki von einem Geist erwischt. Das ist sicher
, höre ich die Stimme von Felix.
Er ist es. Niki selbst. Er ist das Tor.
    Ich schüttele unwillkürlich den Kopf. Niemals. Das lasse ich nicht zu. »Und mit der Geistersache, da lassen wir uns was einfallen.«
    Niki runzelt die Stirn.
    »Doch, klar, wir schaffen das. Wir machen unsere eigenen Beschwörungen. Mit Plastikeimer und Schaufel, wenn es sein muss. Sorgen dafür, dass sie nicht in dich rein- und rausspazieren können, wie sie wollen.«
    Niki hält an: Wir sind da. Die Hochhaussiedlung liegt dunkel vor uns: Auch im obersten Stockwerk brennt kein Licht. Gott sei Dank. Vielleicht habe ich Glück und kann mich am Wohnzimmer vorbeischleichen …
    Niki dreht sich zu mir um und sieht mich an.
    Ich versinke wie immer in seinen blauen Augen, dann nehme ich seine Hand. »Ich kann damit leben«, sage ich leichthin, »wenn du es kannst.«
    »Mit den Geistern?«
    »Mit meinen, deinen … mit allen.« Und als Niki mich küsst und die Welt zum hundertsten Male in dieser Nacht stillsteht, weiß ich, dass es so ist.

Über Marie Lucas
    Marie Lucas
liebt Geheimnisse, Schlittschuhlaufen und ihren Hund.
    Sie lebt in Berlin und
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