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Rot wie Schnee

Rot wie Schnee

Titel: Rot wie Schnee
Autoren: dtv
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    A uf der anderen Seite des Tales senkten sich die Wolken langsam über die Berge. Am späten Nachmittag wanden sie sich in schmalen weißen Streifen durch den Pass im Osten. Wenn dann die Sonne hinter den Gipfeln verschwand, schimmerten sie silbrig. Die Bäume, die sich auf dem Kamm in unvorstellbar weiter Ferne abzeichneten, sahen aus wie eine Kompanie Soldaten, fand Manuel Alavez.
    Um Nahrung und Feuchtigkeit aufzunehmen, waren die Wolken bis weit hinaus in die Welt gesegelt, bis an die pazifische Küste der Provinz Oaxaca. Suchten sie Abwechslung, wenn sie nach Nordwesten zogen, um vom Salz der Karibischen See zu kosten? Bei ihrer Rückkehr dampften die Berghänge noch von der Feuchtigkeit, die aus der dichten Vegetation aufstieg.
    In Manuels Fantasie erzählten sich Wolken und Berge dann, was im Laufe des Tages vorgefallen war. Zwar hatte der Berg kaum mehr als den Dorfklatsch zu berichten, aber die Wolken waren es zufrieden. Nachdem sie so weit über unruhiges Land voll Verzweiflung und harter Arbeit gesegelt waren, war ihnen nach Alltäglichem zumute.
    La vida es un ratito
, das Leben ist ein kleiner Augenblick, pflegte seine Mutter zu sagen. Wenn sie dabei lächelte, unterstrich der fast zahnlose Mund ihren Ausspruch und reduzierte ihn gleichzeitig.
    Manuel formulierte den Ausdruck später um.
La vida es una ratita
, das Leben ist eine kleine Ratte, sagte er.
    Von der Terrasse, wo sie die Kaffeebohnen trockneten, sahen Manuel, seine Mutter und die Brüder unter sich die sechzig |6| Häuser des Dorfs liegen, deren Ziegeldächer im Abendlicht in warmen Rottönen schimmerten. Rauch stieg auf. Wenn sie zu den Bergen hinüberblickten, konnten sie auf schmalen Pfaden winzige Menschen mit schwer bepackten Mulis erkennen, die unterwegs ins Dorf waren, wo die Hunde sie mit müdem Gebell erwarteten.
    Das Dorf lag abseits, wie so viele andere. Bis zur nächsten größeren Straße, auf der man nach Talea gelangte, dauerte es knapp eine Stunde. Der Bus brachte einen dann in fünf Stunden in die Provinzhauptstadt Oaxaca.
    Ihr Kaffee wurde in irgendeinem Hafen verpackt und nach »el norte« oder nach Europa verschifft. Sobald die Aufkäufer die Säcke verladen und weggebracht hatten, verloren die Dorfbewohner die Kontrolle darüber. Sie wussten, dass ihr Kaffee gut schmeckte und dass sich sein Preis verzehnfacht, vielleicht verzwanzigfacht haben würde, wenn er die Käufer erreichte.
     
    Manuel lehnte seinen Kopf an das Fenster des Flugzeugs und starrte in die sternenklare Nacht über dem Atlantik. Nach der langen Reise aus den Bergen hinunter nach Oaxaca, weiteren sieben Stunden im Bus zur Hauptstadt und einem halben Tag Warten auf dem Flugplatz war er erschöpft. Nun befand er sich in elftausend Metern Höhe, und seine Unruhe hatte sich in Erstaunen verwandelt. Er flog zum ersten Mal.
    Eine Stewardess kam vorbei und bot Kaffee an, aber er lehnte ab. Er hatte nicht gut geschmeckt, der Kaffee, den sie ihm vorher serviert hatten. Manuel betrachtete die Stewardess, als sie die Passagiere auf der anderen Seite des Mittelgangs bediente. Sie erinnerte ihn an Gabriella, die Frau, die er heiraten sollte. Seine Mutter fand, es sei höchste Zeit, in ihren Augen war er alt.
    Gabriella und er hatten sich vor einigen Jahren kennengelernt und Briefkontakt gehalten, als er in Kalifornien arbeitete. |7| Ein paar Mal hatte er angerufen. Sie hatte offenkundig auf ihn gewartet. Sicher liebte er sie, das redete er sich jedenfalls ein, aber bei dem Gedanken, sich für immer zu binden, wuchs seine Unruhe.
    Kaum war er eingeschlafen, war Angel bei ihm. Sie waren auf einer
milpa
, wo sie Mais, Bohnen und Squash anbauten. Die Maisernte stand bevor. Ausgelassen hatte sich der Bruder in den Schatten eines Baums gelagert. Er lachte glucksend, wie nur er lachen konnte. Das Glucksen schien aus seinem Bauch zu kommen. Angel war rundlich und drall, als Kind hatte man ihn »El Gordito« genannt, das Dickerchen.
    Angel erzählte von Alfreda aus dem Nachbardorf Santa Maria de Yaviche. Sie hatten sich im Februar bei der Fiesta kennengelernt, und Angel beschrieb ausführlich ihr Gesicht und ihre Haare. Bei Details war er immer genau.
    Manuel stand auf, das leichtsinnige Schwatzen des Bruders über die junge Frau mochte er nicht. Sie war erst siebzehn. »Du darfst sie nicht an der Nase herumführen.«
    »Sie führt doch mich an der Nase herum«, lachte Angel. »Sie bringt mich zum Beben.«
    »Wir müssen jetzt zurückgehen«, sagte Manuel.
    »Gleich«,
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