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Zwischen dir und mir

Zwischen dir und mir

Titel: Zwischen dir und mir
Autoren: Lino Munaretto
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beiseite.
    »Das wird ein Nachspiel haben, Alexander«, hallte es durch den Flur. Doch die Worte verebbten unbeachtet zwischen den kahlen Wänden, während Alex durch den Flur hetzte – genau wie das erneute Summen seines Handys.
    Alex kannte nur ein Ziel, die Tür vor ihm, den Weg, die Straße hin zum Krankenhaus. Auch die Lehrer, die sich am Eingang wahrscheinlich über die Abschlusszeugnisse unterhielten, waren ihm im Weg. Im Vorbeilaufen rempelte er einen von ihnen an, sodass ihm ein Stoß Zettel aus der Hand fiel und durch die Eingangshalle flatterte. Hastig entschuldigte er sich und riss die Tür auf.
    »Das war doch dieser Alexander!«, hörte er die empörte Stimme seiner ehemaligen Lehrerin, Frau Baumann, die ihm das Leben in der siebten Klasse schwer gemacht hatte. Scheißegal. Bevor sie ihn aufhalten konnten, war er hinaus in die Hitze gestürmt. Fast stolperte er auf den Stufen, fing sich gerade noch und hastete Richtung Straße.
    Die Autos hupten, als er über die rote Ampel rannte. Kurz überlegte er, ob ein anderer Weg nicht kürzer gewesen wäre. Jetzt war es zu spät, umzukehren. Also lief er einfach weiter. Den Gedanken, seine Mutter anzurufen, verwarf er gleich wieder. Er wusste, dass etwas Schreckliches passiert war, und er hatte keinen Nerv, sich ihr Geheule anzuhören. Der Schweiß rann ihm die Stirn runter und brannte in den Augen, sein T-Shirt klebte am Rücken. Er keuchte schon, als er an einer roten Ampel Halt machte. »Scheißegal«, presste er zwischen den Zähnen hervor und blickte sich kurz um, bevor er weiterhetzte. Ein Rentner rief ihm etwas hinterher. Die letzten paar Meter führten bergauf. Der Schwindel überkam ihn schon, als er die Auffahrt erreichte und einen Krankenwagen an sich vorbeirasen sah.
    Keuchend stand er vor der Tür, die sich automatisch vor ihm öffnete. Er schaute hoch und sah die vielen Schilder. Bettenhaus 1, 2 und 3, Cafeteria, Nephrologie, Chirurgie, Kinderstation . Er hatte keine Ahnung, wo er hinmusste, und suchte das Foyer weiter ab, bis er die Rezeption direkt zu seiner Rechten gefunden hatte.
    »Dein Bruder liegt auf der Intensivstation«, gab ihm eine genervte Krankenschwester Auskunft, nachdem er viel zu lange in einer Schlange gewartet hatte.
    Er bahnte sich im Slalom seinen Weg zwischen gebrechlichen Patienten mit Krückstock, Sanitätern und Pflegern, die Betten und Essenswagen umherschoben.
    Endlich erreichte er sein Ziel. Eine große Milchglastür. Intensivstation. Da stand er. Die Eile war verflogen. Seine Beine waren schwer. Was wollte er hier eigentlich? Wollte er seinen Bruder wirklich wiedersehen?
    Es war unnatürlich still wie in der ganzen Klinik nicht. Noch einmal wandte er sich um. Am Ende des Ganges polterte ein Schokoriegel im Schacht eines Süßigkeitenautomaten und ein dicker Besucher mit schütterem Haar kramte im Kleingeldfach. Wen besuchte der Mann wohl?
    Wieder wanderte Alex’ Blick zur Tür, durch die er gedämpfte Durchsagen und hektische Stimmen hören konnte. Er tat einen tiefen Atemzug und überwand die Angst vor dem Wiedersehen. Die Geräusche wurden klarer. Er fand sich in einem betriebsamen Korridor wieder.
    »Wo wollen Sie hin? Unbefugte haben hier keinen Zutritt.«
    Die Stimme der Krankenschwester am Schalter riss ihn aus seinen Überlegungen. Bevor er antwortete, blickte er an sich herunter. Ein schweißnasses T-Shirt, eine zerrissene Jeans und alte Adidas-Turnschuhe mit Löchern.
    »Ich will zu meinem Bruder.«
    »Hat der auch einen Namen?«, fragte sie nun freundlicher.
    »Justus«, sprach er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Weiter?«
    »Justus Zucker.« Sie suchte in ihrem Computer, während Alex sich weiter umschaute. »Du bist sein Bruder?«
    »Ja«, antwortete er, ohne sie anzuschauen.
    »Einen Ausweis, bitte.« Alex brauchte einen Moment, bis er verstand, was die Frau von ihm wollte. So etwas Banales, aber hastig griff er nach seinem Portemonnaie und kramte ihn hervor. Mit strengem Blick verglich sie das Bild mit ihm, bis sie knapp antwortete: »Gut.« Sie ließ ihn nicht aus den Augen, während sie die Daten in ihrem Computer aufnahm und die Sprechanlage aktivierte. »Ein Besuchercheck, Schmidt, bitte zum Empfang.«
    Alex wartete ungeduldig. Der Schweiß rann ihm langsam die Stirn hinab. In seinem Kopf drehte sich immer noch alles. Ein Labyrinth aus Vorstellungen. Sein Bruder, der in einer Blutpfütze lag – Lisa, die ihn küsste – aber dann wieder Justus, der langsam dahinstarb – Justus auf dem Parkplatz.
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