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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande
Autoren: E Kellison
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Silbernes, das sich als gefährliche Sichel entpuppte. Eine Sense. Die Schatten teilten sich, und eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt trat hervor. Der Schattenmann war zum Teil verdeckt, doch die Sterne beleuchteten sein Gesicht. Er war wunderschön, aber aus seinen Augen sprach nichts als Einsamkeit. Kein Wunder – eine einsame, finstere Aufgabe bestimmte sein Dasein. Custo konnte der armen Seele nicht vorwerfen, dass sie in einem Augenblick der Schwäche geliebt hatte, selbst wenn dadurch ein Dämon auf die Welt gelangt war und eine Armee von Geistern geschaffen hatte. Wenn irgendjemand einen Weg finden konnte, den Dämon zu töten, waren es Adam und die Tochter des Schattenmannes, die Todesfee Talia.
    Ich muss ihn warnen. Bitte.
    Der Schattenmann wirkte unerbittlich, seine Miene gnadenlos, wie versteinert. Mit seiner Hand umfasste er die Sense und holte langsam Schwung, als würde er ein Tor zum Vergessen öffnen.
    Tod. Dann Hölle. Custo nahm seinen letzten Mut zusammen und unterdrückte die nackte Angst tief in seinem Inneren. Heulen kam nicht infrage.
    Er glitt aus dem Schmerz in die Unsicherheit, der Tunnel mit den scharfen Ästen öffnete sich zu einem hellen Licht. Wahrscheinlich ein heißes Feuer, das sich an dem Blut entzündete, das auf ewig seine Seele befleckte.
    Flüstern ertönte auf beiden Seiten des Weges. Augen blitzten auf. Magie versuchte, ihn vom Weg fortzulocken. Der Tunnel führte zu einer urzeitlichen Küste, an der eine schmale Barke wartete, um sie über einen grauen Kanal zu einem riesigen hohen Tor zu bringen. Die umgebende Mauer leuchtete in allen Farben des Regenbogens, erst blau und gelb, dann himmelblau und leuchtend grün.
    Es musste sich um einen Irrtum handeln – selbst Spencer kannte die Wahrheit.
    Der Schattenmann brachte ihn zu dem glänzenden Tor, das sich öffnete und ihn willkommen hieß. Das Licht blendete. Der Gastgeber begrüßte seinen Neuzugang mit einer Melodie überschwänglicher Freude.
    Custo drehte sich zu dem Schattenmann um, aber der Tod war schon gegangen.
    Also nicht die Hölle. Noch schlimmer. Ein kosmischer Scherz. Eine blutige Seele unter Engeln.
    Er war ein Lügner, ein Mörder, ein Dieb, aber kein Heuchler. Er gehörte nicht hierher.
    Das glänzende Tor schloss sich hinter ihm und läutete dabei wie eine sonntägliche Kirchenglocke.
    Custo stützte sich mit den Händen an der eindrucksvollen Oberfläche ab. Es musste einen Weg hier heraus geben. Einen Weg, das Tor zu öffnen und einen Weg, Adam zu warnen.
    Custo schlug mit der Faust gegen das Tor.
    Und wenn nicht, gute Menschen starben schließlich jeden Tag. Der Tod würde irgendwann zurückkommen, und dann war Custo bereit.

1
    Annabella tanzte en pointe , beugte sich in eine sanfte Arabesque, kreuzte dabei die Arme über der Brust und neigte demütig den Kopf. Durch die Bewegung wirkte ihr langes Übungstutu in den Spiegeln des Studios wie eine stumme weiße Hochzeitsglocke. In jenem Augenblick tönten die ersten überirdischen Töne von Giselle durch den Raum. Das erste unheimliche Wimmern der Streicher … das zweite …
    Sie holte Luft und beugte ihr Gewicht genau in dem Augenblick nach vorn, in dem ihr Partner sie geschmeidig in die Luft hob.
    »Halt. Halt. Halt.« Thomas Venroy schlug mit seinem Stock auf den Boden, damit jemand die Musik ausmachte. Der künstlerische Direktor kommunizierte beinahe ausschließlich, indem er streng den Stock auf den Boden stieß. Trotz der schwülen, feuchten Hitze im Studio trug er Anzughosen und ein Buttondown-Hemd. Die letzten spärlichen grauen Haare hatte er quer über den fast kahlen Schädel gekämmt.
    Annabella löste sich aus der Position, stemmte die Hände auf die Hüften und atmete schwer. Die abgestandene Luft roch nach altem Schweiß, aber niemand kam auf die Idee, ein Fenster zu öffnen und die eisige Luft hereinzulassen, denn dann würden sich ihre Muskeln verkrampfen.
    Sie blickte über ihre Schulter zu ihrem Partner Jasper Morgan. Er hatte die Unterbrechung genutzt, um ein Handtuch von seiner Tasche zu nehmen und sich den Schweiß abzuwischen. Die übrigen Tänzerinnen machten an der Stange Dehnübungen oder saßen auf dem Boden an der rückwärtigen Wand des Studios. Sie übten bereits seit über fünf Stunden, obwohl es bei der morgigen Probe mehr um die Inszenierung und die Kostüme als um die Verfeinerung der Bewegungen ging. Es musste jetzt sein. Wenn nötig, würde sie die ganze Nacht bleiben – es war ihr erster Auftritt als
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