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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande
Autoren: E Kellison
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Rückwärtssprüngen, dann bereitete sie sich auf die Diagonale vor.
    Sie hob den Blick für die Drehung.
    Aus dem dunklen Fantasiewald funkelten sie weit auseinanderstehende gelbe Augen an. Gefährliche Augen.
    Ihr stockte der Atem. Sie blinzelte heftig und schüttelte den Kopf, zwang sich zu entspannen: Schultern nach unten. Konzentriere dich.
    Die Musik schwoll erneut an – ihr Zeichen. Sie vollführte leichtfüßige Drehungen vorwärts. Während ihr Oberkörper durch die Luft schwebte, bewegten sich ihre Füße in hohem Tempo und mit technischer Perfektion. Sie war der Geist eines an Liebeskummer gestorbenen Mädchens; die Schwerkraft hatte keine Macht über sie. Sie war fließendes Wasser, dicht wie die Atmosphäre. Allein die Magie und die Nacht beherrschten sie.
    Ein tiefes Knurren tönte durch den Wald. Nach ihrer schwungvollen Drehung erblickte sie erneut die gelben Augen. Jetzt setzte der riesige Schatten eines Wolfes zum Sprung an.
    Sie verlor das Gleichgewicht und wankte. Ihre Füße rutschten weg, und sie klatschte auf den Studioboden.
    Ein Wolf . Mit klopfendem Herzen rutschte Annabella aus der jetzt leeren Ecke des Raumes. Suchend sah sie sich im Studio um, die Lichter waren auf einmal grell und blendeten. Die Wilis verließen ihre Positionen und lösten die Reihen auf.
    Hat das irgendjemand gesehen?
    Alle hatten nur auf sie geachtet.
    Wohl nur ich.
    Das Wesen war fort, genau wie der finstere Wald, beides hatte sich in ihrer Fantasie aufgelöst.
    Schließlich blickte sie zu Venroy, der die Augen geschlossen hielt und sich in den Nasenrücken kniff.
    Eine Welle der Scham schwappte heiß über sie hinweg. Vielleicht war es wirklich Zeit, nach Hause zu gehen.
    Sterbliche. Eindringling. Frau .
    Hell wie Feuer. Sie tanzte wie eine Flamme. Eine Gefahr.
    Ihr fruchtbarer Geruch brannte dem Jäger in der Nase. Erde, Moschus, süß. Ihm knurrte der Magen. Er wetzte die Zähne.
    Die sterbliche Flamme flackerte, dann erlosch sie, aber ihr Geruch hing noch in der Luft. Zog ihn an. Er bewegte sich an der Grenze der Zwielichtlande entlang, bohrte heimlich die Tatzen durch die Lagen aus Schatten und suchte nach ihr. Er legte den Kopf auf eine Seite und nahm Witterung auf.
    Hier entlang. Die Jagd war eröffnet.
    »Anna, ich möchte dich kurz sprechen«, sagte Venroy. »Ihr anderen seid für heute entlassen.«
    Annabella stützte sich ab und stand auf. Hüfte und Ellbogen schmerzten von dem Sturz. Na, toll . Sie blickte kurz zu den Tänzerinnen, die in Zweier- und Dreierreihen den Raum verließen. Bis vor ein paar Monaten war sie eine von ihnen gewesen. Als die Besetzung für die neue Spielzeit angekündigt wurde, hatte sie fest damit gerechnet, zu der großen Gruppe der Wilis zu gehören. Ganz sicher nicht damit, vor ihnen zu stehen und das weibliche Solo zu tanzen.
    Alles hatte mit den schicksalhaften Worten begonnen: »Anna, ich möchte dich kurz sprechen.«
    Diesmal erwarteten sie keine guten Neuigkeiten.
    Kinn hoch. Morgen war die Kostümprobe – sie war die Giselle, ob es ihnen passte oder nicht. Sie ging auf ihn zu und betete, dass Venroy nicht die Stimme erheben würde. Auf den Hintern zu fallen, war demütigend genug. Dass das ganze Studio auch noch seine Predigt mit anhörte, wäre zu viel.
    Venroys Gesicht nahm einen milderen Ausdruck an. »Ich mache mir Sorgen um dich, Anna. Ich frage mich, ob wir dich zu früh berufen haben und du noch zu jung bist. Deine Technik ist stark, aber andere sind genauso gut, manche sogar besser. Du arbeitest ganz bestimmt sehr hart, aber das tut jede andere hier auch.«
    Ihr drehte sich der Magen um. Sie wollte den Rest nicht hören.
    »Und du hast Talent. Das ist nicht zu übersehen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich spreche nicht von Geschicklichkeit. Ich spreche von einer Gabe. Wenn du tanzt, erwacht die Geschichte zum Leben. Weißt du, was ich meine?«
    »Ich weiß, was ich empfinde, wenn ich tanze.« Ihre Stimme war belegt.
    Er sah sie streng an. »Was?«
    »Es ist anders. Wundervoll. Aber auch irgendwie seltsam. Losgelöst von der Welt, als ob ich fliegen könnte. Klingt das verrückt?«
    »Nein«, entgegnete Venroy. »Und ja. Aber das ist Ballett.« Er wurde ernst. »Wir können den Giselle -Teil aus der Eröffnungsgala streichen und ihn durch etwas anderes ersetzen. Wir können stattdessen jederzeit die Serenade aufführen.«
    Ihr Gesicht brannte. »Ich schwöre, dass ich es schaffe.«
    »Du hast dir zu viel abverlangt. Es ist keine Schande zuzugeben, dass du noch nicht
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