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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande
Autoren: E Kellison
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so weit bist. Wir ändern einfach das Programm.« Er stand auf und richtete seine Hosenbeine. »Wenn du dich allerdings für die Giselle entscheidest und während der Aufführung so abgelenkt bist wie heute Abend, war das dein letzter Auftritt als Solistin.«
    Schlagartig wich die Hitze aus Annabellas Gesicht. Nachdem die Kritik zu ihr durchgedrungen war, schlug ihr Herz heftig und trieb eine frische Welle der Kränkung durch ihren Körper. In ihren Augen brannten Tränen. Die bloße Vorstellung, Thomas Venroy enttäuscht zu haben, schnürte ihr die Brust zusammen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, blickte auf ihre Schuhe und konzentrierte sich auf den abgetragenen roséfarbenen Satin, um nicht zu weinen. Sie war eine erwachsene Frau, verdammt.
    »Was willst du?«
    Es gab nur eine Antwort. » Giselle .«
    Venroy fasste ihr Kinn, hob ihr Gesicht und schüttelte sie leicht. »Anna, bitte. Ich glaube an dich. Wenn du tanzt, erstrahlst du. Versuche, den Augenblick zu genießen.«
    Das versuchte sie. Sie packte ihr ganzes Talent und ihre ganze Seele in diese Aufführung. Das war ihr Traum.
    Mit einem Seufzer hob Venroy sein zusammengelegtes graubraunes Sakko vom Boden auf, klopfte es ab und schlüpfte hinein. »Geh nach Hause. Schlaf dich aus. Vertrau darauf, dass die Vorstellung wunderbar wird. Sobald du im Kostüm auf der Bühne stehst, kann dich nichts mehr aufhalten. Du lässt dich durch nichts ablenken und wirst ganz Giselle sein, mit Körper und Geist.«
    Wird dieser Wolf da sein? Sie biss sich auf die Lippe, damit ihr die Frage nicht versehentlich herausrutschte. Dann schluckte sie heftig und nickte. Venroy durfte nicht den Eindruck bekommen, dass sie verrückt wurde.
    Er legte einen Arm um ihre Taille und führte sie aus dem Studio, dann gab er ihr einen Klaps auf den Po und schob sie in Richtung Umkleide.
    Jasper lehnte vor dem Studio an der Wand. »Du musst einmal richtig gevögelt werden.«
    Annabella blieb stehen und schenkte ihm ein halbherziges Lächeln. Der Süße hatte gewartet, um sich zu überzeugen, dass es ihr gut ging. Er hatte sich das Handtuch um den Nacken gelegt und hielt die Enden mit beiden Händen fest. Der Rest seines fantastischen Körpers zeichnete sich unter seinen verschwitzten Strumpfhosen und dem Trikot ab. Sehr eindrucksvoll.
    Er grinste sie an. »Du weißt schon. So, dass dein Verstand ausgeschaltet wird und dein Körper trieft.«
    Sie brachte ein Lachen zustande. »Ist das etwa ein Angebot?«
    »Ich würde es sofort tun, wenn ich könnte, Süße. Du brauchst es.« Er ergriff ihre Hand und küsste ihre Handfläche. »Aber ich glaube, das würde meinen Freund verwirren.«
    »Du Glückspilz«, antwortete sie und drehte sich zur Umkleide um. Es war bekannt, dass Jasper und sein Freund Ricky so gut wie verheiratet waren.
    Jasper ließ ihre Hand los. »Such dir einen netten Jungen.«
    »Ha!«, entgegnete sie, während sie die Tür zur Umkleide öffnete. Einen netten Jungen. Er klang wie ihre Mutter. Sie hatte keine Zeit für nette Jungen. Oder böse.
    Langsam fiel die Tür zu. »Das wirkt Wunder!«
    Annabella schob sich an einer Gruppe Tänzerinnen vorbei, die vor dem Eingang stand. Wenn sie sich beeilte, war sie in zwanzig Minuten zu Hause. Im Hintergrund zischten die Duschen. Die meisten Tänzerinnen hatten es ebenfalls eilig, riefen sich Abschiedsgrüße zu und drängten sich an halbnackten Körpern vorbei. Anna ließ sich auf die Bank sinken. Sie zog ihr Tutu aus, hängte es an einen Haken in einem Spind und löste die Bänder an ihren Schuhen. »Anna«, rief Katrina. Sie hatten sich angefreundet, als sie vor ein paar Jahren gemeinsam dem Ensemble beigetreten waren. Seit Annabellas Aufstieg zur Ersten Solistin hatten sie nicht viel miteinander gesprochen.
    »Ja?« Annabella lehnte sich auf der Bank zurück und beobachtete, wie Katrina sich ein T-Shirt über den Kopf zog.
    »Ein paar von uns gehen zur Entspannung noch etwas zusammen trinken. Kommst du mit?« Während sie eine Jeans griff, stupste Katrina ein anderes Mädchen an – Marcia, mit ihrer eleganten Hochsteckfrisur – , die über die umständliche Einladung stöhnte.
    Etwas trinken. Ein bisschen lachen. Wie in alten Zeiten.
    Aus politischen Gründen sollte sie mitgehen. Das wusste sie. Das war auch Katrina klar. Und nach dem Schweigen in der Umkleide zu urteilen, wussten es alle anderen ebenfalls.
    Aber ihr Körper schmerzte, ihre Gedanken rasten, und sie musste unbedingt in Ruhe weinen. Sie wollte auf gar keinen
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