Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande
Autoren: E Kellison
Vom Netzwerk:
Primaballerina. Ihre Giselle musste perfekt sein, selbst wenn die Compagnie in der Galavorstellung nur den zweiten Akt aufführte.
    Jasper warf das Handtuch über die Schulter und hockte sich auf den Boden. Vermutlich dehnte er seinen Rücken – ihrer brachte sie auch gerade um. Wenn sie nach Hause kam, würde sie eine Flasche Ibuprofen schlucken, ein heißes Bad nehmen und wie ein Baby heulen. Aber nicht jetzt. Nicht, solange jemand zusah.
    »Annabella«, sagte Venroy von seinem Platz neben dem großen Spiegel aus, »deine Schultern sind total angespannt. Du sollst eine Wili darstellen. Einen Geist. Eine Wolke.«
    Anspannung. Richtig. Sie wurde fast verrückt vor Anspannung.
    Sie rollte die Schultern. »Ich mache es besser«, erklärte sie. »Ich war nicht ganz konzentriert, das ist alles.«
    »Anna.« Venroy winkte ab. »Du bist müde. Jasper ist müde. Geht nach Hause und … «
    »Nein«, unterbrach ihn Annabella. Sie erschrak sich über ihren scharfen Ton, holte tief Luft und flehte: »Ich muss es richtig hinkriegen. Es fehlt nicht mehr viel. Das spüre ich. Nur noch ein Mal.«
    Venroy runzelte die Stirn. Eines der Mädchen im Hintergrund murmelte »Diva«, aber Anna drehte sich nicht zu ihr um. Es spielte nicht wirklich eine Rolle, was die anderen dachten. Sie hatte ihr Leben für das Ballett geopfert; sie erwartete nicht, dass irgendjemand sie zu einer Pyjamaparty einlud.
    Sie blickte zu Jasper hinunter. »Bitte.«
    Stöhnend richtete sich Jasper auf, knäuelte sein Handtuch zusammen und warf es an die Seite. Er tanzte bereits seit zwei Jahren als Solist und war genauso engagiert bei der Sache. Er hatte die ideale Größe für sie. Mit seinen blauen Augen und den blonden Haaren machte er immer eine gute Figur auf der Bühne, ganz abgesehen davon, dass er genau wusste, wie man ein Paar Strumpfhosen ausfüllte. Zu schade, dass er schwul war.
    Jaspers widerwillige Unterstützung machte ihr Mut. Fragend drehte sie sich zu Venroy um.
    »Ach, na gut. Ein letztes Mal.« Venroys Blick glitt zu den Tänzerinnen an der hinteren Wand. »Macht euch bereit.«
    Annabella nahm wieder ihre Anfangsposition ein und wartete auf den Einsatz der Musik. Es war ihre letzte Chance, es vor dem großen Abend ›perfekt‹ zu machen.
    Tief Luft holen. Schultern entspannen. Los.
    Die sanfte Musik erklang erneut aus dem CD -Spieler. Sie ließ sich von der Melodie leiten. Beinahe lautlos glitt sie auf Spitzen durch die Schritte, die dem Pas de deux folgten.
    Sie verband die einzelnen Bewegungen so geschmeidig miteinander, dass die Arabesquenfolge zur schattenhaften Bewegung eines Waldgeistes wurde. Sie löste sich von Annabella und gab sich ganz dem Zauber des Balletts hin. Ließ sich von dem Tanz in den Geist von Giselle verwandeln, der Wili .
    Eine Arabesque. Ein Atemzug. Und Jaspers starke Hände umfassten ihre Taille und hoben ihren Körper in die Luft.
    Er setzte sie sanft neben dem Grab auf dem Waldboden ab, dann trat er vor, um sie zu umarmen, um den Geist seiner Liebe festzuhalten. Aber es war zu spät, viel zu spät. Der trügerische Prinz Albrecht hatte ihr schwaches Herz gebrochen, und sie war gestorben. Jetzt kam er um Mitternacht, um sie zu quälen.
    »Leicht! Denk an deine Arme!«, rief Venroy.
    Annabella korrigierte die Haltung ihrer Arme, sodass sie zurückhaltend wirkte, und neigte kummervoll den Kopf.
    Aufgeschreckt von einer Brise, die durch die dunklen Bäume wehte, glitt sie auf Spitzen zurück.
    »Ja! Jasper darf dich nicht kriegen!«
    Sie sah Jasper nur undeutlich, während sie leichtfüßig über die Bühne lief. Wenn sie ihn ansähe, richtig ansähe, ginge der Moment verloren. Die magische Reise zwischen dem Hier und dem Jenseits. Prickelnd strömte ihr Blut durch ihren vibrierenden Körper und kribbelte bei jedem Schwung und jeder Wendung in ihren Fingerspitzen. An den Rändern des Studios sammelte sich Dunkelheit, und anstelle der Wände entstand ein märchenhafter Wald.
    »Das ist es! Wunderschön, Anna!« Venroy hob seinen Stock. »Mädchen, macht euch bereit!«
    Die Musik schwoll an. Ihre Wilischwestern glitten aus den Baumreihen hervor und schwebten wie Nebel um sie herum, bevor sie am Rand der Lichtung mit über der Brust gekreuzten Armen und gesenkten Köpfen zwei Reihen bildeten, die Augen hohl und eingefallen, als wären sie tot.
    Ein Zögern in der Musik, dann sang eine einzelne Geige, und das Tempo der Melodie zog an, aber der Klang blieb unheimlich. Flink und leicht vollführte sie eine Serie von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher