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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein
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leiden. Ich kann meine Cousins nicht leiden.
    »Seid nett zu Agnes. Sie wird bei uns wohnen, bis ihre Eltern sie nachholen.«
    Empört drehte ich mich um, fixierte die hinter dicken Brillengläsern lauernden Augen meiner Tante.
    »Wieso, ich bleib in unserer Wohnung.«
    »Red nicht, du bist viel zu jung. Aber fahr erst einmal heim, ich komm morgen vorbei, dann schauen wir weiter.« Wieder dieses Klimpern, wieder sandten ihre Augen Botschaften, die ich nicht verstand.
    Schulterzuckend stieß ich Adi von der Tür weg und ging hinaus. Ich nahm den Geruch von Wurst mit, die es offiziell nicht gab.
    »Wo ist der Alte?«, hörte ich Gicu fragen. Er redete von seinem Vater.
    »Oh!« Eine Pause entstand, dann hörte ich klatschende Geräusche. Die beiden Strohköpfe hatten ihren Großvater vor dem Laden vergessen.
     
     
    Es dauerte nur drei Tage, dann wussten es alle. Die ganze Schule, meine ich. Meine Mutter würde nicht zurückkommen. Ich war das Kind von Verrätern.
    Herr Honigberger, mein Biologielehrer, rief mich nach vorne.
    »Agnes Tausch, sei so gut.«
    Alle anderen drängten sich an mir vorbei, hinaus in den Flur. Keiner wusste, wohin er schauen sollte. Auch Herr Honigberger nicht. Schüchtern hielt er mir einen Zettel entgegen. Ich griff nicht sofort danach, er musste erst meine Hand mit dem Papier streicheln. Kurz sahen wir uns in die Augen, dann eilte ich den anderen hinterher. Den Zettel hielt ich in den Falten meiner Uniform versteckt. Obwohl der Kalender Mai anzeigte, war es sehr warm, sommerwarm. Das dunkelblaue Uniformkleid kratzte auf der nackten Haut. Meine Mitschüler starrten mir neugierig nach, als ich wortlos auf dem Klo verschwand.
    Auf dem Zettel stand:
     
    Tauschensis’ sind scheue und zurückhaltende Bodenbrüter,
    die am Fuße der Karpaten siedeln.
    Durch die lange Adoleszenzphase
    kommt es immer wieder vor,
    dass Elternpaare frühzeitig die Jungbrut verlassen
    und sich in weit entfernten Siedlungsgebieten
    einem neuen Nestbau zuwenden.
    So bleiben vereinzelt Jungtiere allein zurück,
    die sich jedoch zumeist arttypisch weiterentwickeln.
     
    Diese gut gemeinten Worte verwandelten sich in der Einsamkeit der Klokabine in stabile Fischgräten, die sich mir quer in den Hals legten. Ich weinte nicht, blieb sitzen und kam erst heraus, als ich draußen keine Schritte mehr hörte. Die versteckte Botschaft war nicht schwer zu begreifen. Das Vogeljunge war ich. Ich konnte noch nicht fliegen, konnte mich nicht selbst ernähren, konnte noch gar nichts, aber ich würde überleben.
     
     
    Am nächsten Tag fragte Herr Honigberger, wo ich jetzt wohnen würde.
    »In dem verlassenen Nest«, antworte ich. »Sie haben es sehr treffend beschrieben.«
    Als Kommentar lachte er herzlich und nahm mich in den Arm. Neben uns fiel ein Stück Mörtel von der Wand. Das Schulhaus musste dringend saniert werden. Sehr langsam, als müsste ich überlegen, ob ich das auch wirklich wollte, kamen ein paar Tränen. Aber Salzwasserflecken trocknen schnell. Als der Unterricht anfing, sah man keine Spur mehr von mir auf Herrn Honigbergers kariertem Hemd. Es war ein wirklich hässliches Hemd, doch es wurde von einem wirklich netten Menschen bewohnt. Für den Nachmittag hatte er mich zu sich nach Hause eingeladen.
     
    Er, seine Frau und die zwei Kinder lebten im Valea Cetatii, einem neuen Ortsteil von Kronstadt. In einem absurd hässlichen Block. Während unser Block ein Dorfhochhaus war und alleine zwischen grünen Feldern und der Durchgangsstraße stand, ragte im Valea Cetatii ein Block am anderen in den wolkenverhangenen Himmel.Innerhalb von fünfzehn Jahren war aus dem ehemaligen Agrarland ein Industrieland geworden. Keine Industrie ohne Fabriken, keine Fabriken ohne Arbeiter, keine Arbeiter ohne Wohnraumbedarf. Unser großer Chef hatte es so bestimmt. Er wusste über alles Bescheid. Er war oberster Planer und Entwickler und Vordenker. Kopf aller Köpfe. Seit ich denken konnte, war ich stolz auf den sozialistischen Weg gewesen. Meine Begeisterung hatte sich im Lauf der Jahre verbraucht – ein riesengroßes Glas Marmelade, dessen Inhalt einem nach und nach über wird. Doch an diesem Tag beschloss ich, dem Verband der Werktätigen Jugend beizutreten.
    Die Blocks, erst wenige Jahre alt, verfielen bereits, und daran gab ich niemand anderem die Schuld als meinen Eltern. Meinen Eltern und den anderen Verrätern, die unser schönes Land im Stich gelassen hatten.
    Mit der Frage: Was will ich? kam gleichzeitig die Antwort. Ich
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