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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein
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Mund.
     
     
    Ein Jahr später hielt es meine Mutter nicht mehr aus, sie reiste ihm nach.
    Servus, sagte sie zu mir. Und ich dachte, sie meint Servus: bis bald. Neben ihr stand der Handballtrainer, sie fuhr zu einem Freundschaftsspiel nach Ungarn. Doch die Mannschaft kehrte ohne sie zurück.
     
    Das Wort
Servus
benutze ich weiterhin. Es ist ein sehr schönes Wort. Im Mittelhochdeutschen gibt es den Ausdruck »serwe«, was so viel wie bewaffne, rüste dich bedeutet. Ich bewaffnete mich. Mit einem Hasspanzer.
     
     
    Die Erikatante rief mich am 15.   Mai 1987 an, zehn Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag. Ich erinnere mich genau. Die Kastanien im Park trugen ihre Blüten wie Kommunionkerzen, voller Stolz und Zuversicht. Erikatante hatte keinen Telefonanschluss und musste zur Nachbarin gehen. Im Hintergrund verkündete eine Radiosprecherin:
    Der Kapitalismus und Imperialismus wird in Rumänien keine Chance haben.
    »Ein Brief für dich, komm vorbei.«
    Tante Erikas Stimme klang sehr rau. So klingen Krankenschwestern oder Ärzte, bevor sie einem die schreckliche Diagnose überbringen.
    Um Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Wer spricht da?«
    »Eri, deine Godi.« Die Telefonleitung vibrierte. »Es geht um einen Brief, er ist von deiner Mutter.«
    »Wieso Brief? Mamusch ist in Ungarn, sie macht Ferien.«
    »Deine Mutter ist im Westen, sie kommt nicht zurück.«
    Ich legte den Hörer vorsichtig auf, als wäre er ein rohes Ei und ich ein Elefant. Ich wäre gern ein grauer Riese gewesen. Elefanten strahlen Stärke und Zufriedenheit aus. In der Literaturgruppe sollten wir uns ein Tier überlegen, in dessen Haut wir schlüpfen wollten. Wir sollten einen Text dazu schreiben. Die halbe Klasse verwandelte sich in Vögel und Insekten, die in wunderschön lyrischen Wortbildern den Himmel eroberten; der Rest war zu Raubkatzen mutiert, die sich vor niemandem fürchteten. Meine Elefantengeschichte kam nicht gut an. Zu grau, urteilte Herr Döring.
    Für Sekunden stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Menscheneltern unter meinem rechten Elefantenvorderfuß zu liegen kämen. Ich hatte eine bestimmte Zirkusnummer aus einem bestimmten Film vor Augen. Sie hätten keine Gelegenheit zu schreien, wären auf der Stelle tot.
     
     
    »Deine Mutter ist jetzt im Westen, sie kommt nicht zurück.« Den Satz schleppte ich wie einen Zementsack mit in mein Zimmer. Tisch, Stuhl, Bett, das Übliche. Aber kein Kasten, nur eine Kleiderstange, die durch einen Rosenvorhang verborgen wurde. Der Raum kam mir kleiner vor als sonst. Egal, mir gehörte ja jetzt die ganze Wohnung. Ich war elternlos und frei. Gespannt wartete ich auf aufkeimende Freude. Als die Freude nicht keimen, erst recht nicht wachsen wollte, schürfte ich in Erinnerungen. Es gab viele Geschichten über Kinder, deren Mütter oder Väter in den Westen geflohen waren. Nach fünf, manchmal auch schon nach drei Jahren durften die hier Verbliebenen nachreisen. 10   000   Mark kostete eine Ausreise, pro Kopf. Ich erinnerte mich aber an keine Erzählung, in der beide Elternteile drübengeblieben waren. War ich etwas Besonderes? Würden sie mit dem Finger auf mich zeigen? Schaut, da kommt sie! Warum hatte Mamusch den Brief nicht an unsere Adresse geschickt, wenigstens das?
    Mit zusammengekniffenen Augen stellte ich mir Tante Erikas Küche vor. In dem dunklen Raum wären alle anwesend, Gicuonkel, die Zwillinge, der halbseitig gelähmte Großvater. Alle würden mir dabei zuschauen, wie ich den Brief entgegennahm. Das Wort
alle
erreichte eine beängstigende Dimension. Es glich einem Felsen, der mich zu Boden drückte. Eine Ameise konnte sich nicht kleiner, nicht unbedeutender fühlen. Doch schließlich holte ich tief Luft, leckte mir über die Lippen, tat es ein zweites Mal – mit Zuversicht. Hatte ich es nicht längst geahnt, hatte Mamusch mich nicht viel zu lange und viel zu heftig umarmt? Unschlüssig zog ich den geblümten Vorhangstoff zur Seite, besah meineGarderobe. Zwei Röcke teilten sich einen Bügel, daneben hingen vier Blusen, das Konfirmationskleid und die zweite Schuluniform. Eine Jeans, eine echte Westjeans würde hinzukommen. Das Wort
Westjeans
rettete mich. Schlagartig ging es mir besser. Lächelnd zog ich den hellroten Rock an und kämmte mir die Haare. Dann zog ich den Rock wieder aus und schlüpfte in die Schuluniform. Das dunkle Blau des Trägerkleides bot mehr Halt.
     
    Von Zeiden aus fuhr ich mit dem Bus in die Stadt. Zum zweiten Mal an diesem Tag. In der Langgasse
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