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Zug der Traeume

Zug der Traeume

Titel: Zug der Traeume
Autoren: Ruthie Knox
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die Küche, wo ein großer, älterer Mann am Tisch sitzt und von einer hageren Frau in Schwesterntracht mit Suppe gefüttert wird.
    »Hi, Ty!«, sagt sie. »Wir hatten dich nicht so bald zurückerwartet.«
    Der Mann krümmt sich über die Schüssel. Mit mürrisch zusammengekniffenen Augen schielt er seitwärts zu Tyler. Ich schätze, er ist über eins achtzig groß, und auf ihm lastet das Gewicht, das sich die meisten Männer im Oberen Mittleren Westen in ihren späten Jahren aufzuladen scheinen. Sein Bartwuchs ist schon ein paar Tage alt, er trägt ein zerknittertes weißes T-Shirt und eine Jogginghose.
    Tyler gestikuliert mit den Händen und sagt: »Hallo, Nancy. Ich wollte Mandy meinem Dad vorstellen.«
    »Ach, das ist Mandy?« Nancy mustert mich auf eine freundliche Weise und macht dann Gesten zu dem älteren Mann hin. Tylers Vater. »Sieh mal, Paul! Tyler hat Mandy mitgebracht, damit du sie kennenlernst. Sieht sie nicht wie ein nettes junges Mädchen aus?«
    Tylers Vater macht ein fürchterliches, ersticktes Stöhngeräusch und starrt mich an. Seine freie Hand hebt sich vom Tisch und hackt hastig eine Form in die Luft.
    »Hübsches Mädchen«, sagt die Krankenschwester. »Das stimmt, Paul, sie ist ein hübsches Mädchen.« Sie nimmt die Serviette und wischt ihm den Mund ab.
    Ich bin vielleicht etwas schwer von Begriff, doch ich denke, ich habe genug verstanden. Dass Paul Janssen taub ist und das eine oder andere bei ihm nachlässt. Ich erinnere mich, dass Tyler mir bei unserem zweiten Date erzählt hat, er sei auf einer abgeschiedenen Farm in Appalachia aufgewachsen, und seine Eltern seien beide taub. Deshalb hatte er die Gebärdensprache gelernt, ehe er sprechen konnte.
    Keine Geschichte. Die Wahrheit. Mehr oder weniger.
    »Tja, wir hatten schon einen bewegten Morgen«, erzählt die Schwester Tyler und macht Gebärden, damit Paul Janssen sie versteht. »Ich habe ihm zum Frühstück Orangensaft mit Verdickungsmittel trinken lassen und versucht, etwas Toast in ihn reinzubekommen, aber er wollte heute einfach nichts essen, stimmt’s, Paul? Und er hat sich geweigert, sich anziehen zu lassen.«
    Tyler zuckt zusammen. »Er hat dich doch nicht wieder geschlagen?«
    Sie schüttelt den Kopf und hört mit den Gebärden auf. »Er hat ausgeholt, aber ich habe es kommen sehen. Ich dachte, es schadet nichts, wenn ich ihm die Jogginghose anlasse, bis du heimkommst. Vielleicht ist es sowieso Zeit, dass wir ihn die Jogginghose den ganzen Tag tragen lassen.«
    »Das würde ihm ganz und gar nicht gefallen.«
    »Ich weiß, Schätzchen, und ich weiß, du willst, dass er seine Würde behält. Aber du tust schon für ihn, was du kannst. Um bei dieser Krankheit nicht durchzudrehen, musst du auch die Veränderungen so akzeptieren, wie sie kommen.«
    Tyler nickt. »Ich denke darüber nach. Doch für den Moment werde ich ihn wohl anziehen.« Er fängt wieder an zu gestikulieren. »Was meinst du, Dad? Willst du dich für den Tag fertig machen?«
    Sein Vater knurrt und fuchtelt in der Luft herum. Definitiv ein Nein.
    Ich weiche bis zur Wand zurück und sehe dem Schauspiel weiter zu. Tyler überredet seinen Vater, vom Stuhl aufzustehen, und hilft ihm dabei, langsam – so langsam, dass es wehtut – aus dem Zimmer zu schlurfen. Paul stützt sich mit einer Hand auf Tylers Schulter und nimmt mit der anderen einen dreibeinigen Metallstock zu Hilfe. Paul sieht schwer aus. So schwer.
    Das Haus versinkt in Stille, als sie vermutlich in einem Schlafzimmer verschwinden, das ich von hier aus nicht einsehen kann, und dann höre ich nur noch ein Plumpsen und das Quietschen eines Gewichts auf einer Matratze, begleitet von Tylers gedämpftem Gegrummel. Sie brauchen eine Weile. Danach hilft Tyler seinem Vater ins Badezimmer.
    Die Krankenschwester sieht mich an. »Er reibt sich total auf«, sagt sie leise. »Tag und Nacht. Seine Mutter war genauso.«
    »Kennen Sie ihn schon lange?«
    »Ich habe angefangen, ein paar Stunden in der Woche rüberzukommen, als Paul allmählich besondere Pflege brauchte. Ich gab dann auf ihn acht, wenn Mrs. Janssen einkaufen gehen wollte. Damals war Tyler in der Schule, ist zum Unterricht nach Milwaukee gependelt und hat zu Hause gewohnt, um seiner Mutter zu helfen.«
    »Aber sie ist gestorben«, sage ich im Flüsterton. »Und er hat übernommen.«
    Das hat er mir auch erzählt. Eine Geschichte über seine selige Tante Beedie und darüber, wie sie sich um seinen Onkel gekümmert hatte, als der dement wurde, bis es sie
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