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Zug der Traeume

Zug der Traeume

Titel: Zug der Traeume
Autoren: Ruthie Knox
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regelrecht aufgezehrt hat. Dass er für die Pflege seines Onkels sorgen musste, weil Beedie es so gewollt hatte.
    »Wie viel helfen Sie ihm?«, frage ich.
    »Nicht genug. Nur wenn er im Museum arbeitet und ein paar Stunden hier und da, damit er seine Erledigungen machen kann. Und ich bin einen Abend pro Monat gekommen, damit er sich mit Ihnen treffen konnte.« Sie senkt den Blick auf den Tisch, vielleicht weil sie befürchtet, eine Grenze überschritten zu haben.
    Tyler und sein Vater kommen wieder ins Zimmer, ein Vorgang, der gut fünf Minuten dauert, bis Paul endlich wieder auf seinem Stuhl Platz genommen hat. Die Krankenschwester füttert ihn mit Crackern. Tyler ist jetzt ungewöhnlich aufgewühlt. Die Haare fallen ihm ins Gesicht, doch Paul ist ordentlich gekämmt und trägt eine dunkelblaue Hose und eine Strickjacke über einem geknöpften Hemd. Würdevoll.
    Mein Vater war immer gut gekleidet
, hatte Tyler mir mal erzählt. Er hatte sich die Fingernägel an seinem Pullover poliert und darauf geblasen, in den Augen ein freches Leuchten.
Liegt in der Familie.
    Du bist ganz schön eitel
, hatte ich gesagt.
    Jeder, wie er kann. Mama meinte immer, dass es diese Pfauenfedern waren, die sie als Erstes auf ihn aufmerksam gemacht haben. Ich schätze, man braucht ein gewisses Extra, um ein Mädchen zu gewinnen, das es wert ist. Was ist mit dir, Süße? Stehst du auf einen Kerl mit hübschen Federn?
    Ich stehe auf ihn. Ich stehe wie verrückt auf ihn, und mir dämmert, wenn er ein kompletter Idiot war, dann war ich es auch. Wir haben beide nach einer Verbindung gesucht, ohne bereit zu sein, dafür irgendein Risiko einzugehen.
    Ich dachte, wir passen nicht zusammen, aber genau das Gegenteil ist der Fall. Wir sind uns zu ähnlich. Zu viele Lasten in unserem Alltag, zu viel Gefallen an der Flucht, und verdammt noch mal kein Gespür dafür, wie wir uns gegenseitig finden, uns dem anderen mitteilen und die Wahrheit sagen.
    Doch vielleicht gelingt uns das mit etwas Übung besser. Ich will es auf jeden Fall versuchen.
    Tyler unterhält sich mit Nancy, plant Pauls restlichen Tag. »Willst du das Haus sehen?«, fragt er mich, als sie fertig sind.
    Ich will. Er führt mich herum, angefangen oben in seinem Schlafzimmer, das alles andere als ein Kinderzimmer ist. Er hat sogar ein großes, antikes Schlittenbett aus Kirschholz mit einem hübschen Kopfteil. Ein ordentlicher Stapel sauberer Wäsche liegt auf einem Stuhl. Tyler zeigt mir das Bad, das Arbeitszimmer, das Gästezimmer, das Esszimmer. Ich sehe die Couch im Wohnzimmer, gleich neben dem Schlafzimmer seines Vaters, auf der Armlehne eine zusammengefaltete Wolldecke und an der Rückenlehne ein großes Kopfkissen.
Da schläft er
, denke ich.
Um in der Nähe zu sein, wenn sein Vater ihn braucht.
    Im Keller zeigt Tyler mir eine zweieinhalb Meter hohe Kletterwand, die er selbst gebaut hat, zum Bouldern. Sie geht über drei Wände. Ich weiß nicht, was Bouldern ist, aber als ich versuche, mich an einem der Griffe festzuhalten, verstehe ich, warum er raue Hände und sehnige Unterarme hat. Ich stelle mir vor, wie er abends hier unten seinen Stress abbaut, sich die Wände entlangbewegt, elegant wie eine Spinne, und dabei alle Stellen lockert, die sich von der schweren körperlichen Arbeit, seinem Vater durch seine Tage zu helfen, verspannt haben.
    Ich bin schon immer gern irgendwo raufgeklettert,
hatte er gesagt, als er mir die Leiter hinauf auf das Dach der Atchison, Topeka and Santa Fe geholfen hat.
Schon als Kind hat meine Ma mich immer »Äffchen« genannt.
    Ich kann mir sein ganzes Leben vorstellen. Er hat mir das meiste davon erzählt, genau wie ich ihm.
    Er führt mich nach draußen, und wir setzen uns in der Kälte auf die Stufen vor dem Haus und blicken auf die ruhige Straße. Sein Garten ist sehr gepflegt, für den Winter hergerichtet. Das muss er gemacht haben. Er muss ständig arbeiten, immer das Gefühl haben hinterherzuhinken, gebraucht zu werden.
    An jenem Abend in der Big Boy, als er vor mir die Kontrolle verloren hatte, hatte ich versucht zu sein, was er brauchte, aber ich hatte nicht begriffen.
    Jetzt begreife ich.
    »Du dachtest, es gibt keinen Platz für mich.«
    Er blickt in seinen Garten hinaus, schiebt die Hände seine Oberschenkel hinab und über die Knie. »Ja.«
    »Ich dachte auch, es gibt keinen Platz für dich.«
    Tyler wendet sich mir zu, begegnet meinem Blick. Er legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß immer noch nicht, wie es funktionieren
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